Von Florian Ehrhardt

Zehn Tage, nachdem Lisa endgültig weg ist, schaffe ich es das erste Mal wieder, die Wohnung zu verlassen. Wobei…ich bin gewissermaßen gezwungen. Habe mich die letzten eineinhalb Wochen von Chips, Tiefkühlpizza und Bier ernährt. Aber irgendwann ist sogar mein – und jetzt ist es tatsächlich meiner, nicht mehr unser – einst üppig gefüllter Kühlschrank leer. Also wage ich mich endlich wieder nach draußen. Das Sonnenlicht beißt. Warum musste sie mich ausgerechnet am Anfang meines dreiwöchigen Sommerurlaubs (den ich eigentlich mit ihr in der Toskana verbringen wollte) verlassen? Arbeiten wäre wenigstens eine willkommene Ablenkung gewesen. So bin ich daheim vergammelt. Dass ich wirklich vergammelt bin, erkenne ich aber erst am Blick des verstörten Bäckerlehrlings, als ich zwei Butterbrezeln und eine Cola bestelle. Ich muss aussehen wie ein Wrack. In Windeseile bin ich wieder zurück in meiner Wohnung, die mal ein Liebesnest war.

Der Badezimmerspiegel verrät mir, wie katastrophal ich wirklich aussehe. Mein unrasiertes Gesicht gleicht einem Kaktus, die dunklen Ränder unter meinen Augen erinnern an einen Waschbär. Was mich daran erinnert, dass eine heiße Dusche vielleicht auch nicht ganz verkehrt wäre.

 

Irgendwann werfe ich einen letzten, prüfenden Blick auf mein Spiegelbild und entscheide, dass ich jetzt wieder menschlich genug aussehe, um auf die Straße zu treten. Wobei: Erstmal setze ich mich in mein Auto und fahre los. Muss ziemlich ziellos aussehen: Ich biege links und rechts ab, ohne eine wirkliche Idee zu haben, wo es hingehen könnte. Aber am Ende lande ich intuitiv, zufällig oder vielleicht sogar unterbewusst gesteuert auf dem Parkplatz des botanischen Gartens. Dort, wo wir unser erstes Date hatten. Ich löse ein Ticket, doch keine zehn Minuten später sind mir die Palmen, Schlingpflanzen und Kakteen zu langweilig geworden und ich verlasse das warme, schwüle Gewächshaus eigentlich sofort wieder. Hat mich wohl doch zu sehr an Lisa erinnert. Wieder scheint mich mein Unterbewusstsein zu steuern, denn diesmal lande ich im Park zwei Straßen weiter. Zielsicher laufe ich der Bank entgegen, auf der wir uns das erste Mal geküsst haben. Ich setze mich und starre durch den Springbrunnen vor mir hindurch ins Leere.

 

Ich muss eingeschlafen sein, denn eine zarte Hand auf meiner Wange weckt mich wieder auf.
„Lisa?“, schrecke ich hoch.

„Da stimmt nur der erste Buchstabe. Lutz. Christiane Lutz, wenn Sie es genau haben möchten.“

Ich blicke in das Gesicht einer relativ attraktiven Mittdreißigerin, deren strahlend blaue Augen von langen, schwarzen Haaren eingerahmt werden. Die würde ich trotz des Alters nicht von der Bettkante stoßen. Ich bin ja jetzt wieder Single, stelle ich enttäuscht fest.

Also stelle ich mich etwas verdutzt vor: „Ähm…Meyer, also, Benjamin Meyer.“

„Hallo Herr Meyer, freut mich, Sie endlich kennenzulernen! Ich habe schon viel von Ihnen gehört!“

Ich bin noch etwas müde und bringe immerhin ein genuscheltes „Freut mich auch…“ heraus, werde dann aber doch wach: „…aber was wollen Sie denn von mir gehört haben? Und warum stupsen Sie schlafende Fremde auf Parkbänken an, Frau Lutz?“

„Ich habe meine Kontakte. Und ganz abgesehen davon: Warum schlafen Sie überhaupt am helllichten Tag auf einer Parkbank? Sie sehen mir nicht nach einem Penner aus. Und außerdem: Nenn‘ mich lieber Christiane, oder gleich Chris, das geht leichter von der Zunge.“

„Na gut, Frau…äh…Chris. Dann bin ich der Benny.“

„So gefällt mir das schon besser, Benny!“ Sie lächelt ein ziemlich süßes Zahnpastalächeln. „Also, was bringt dich an einem Mittwochnachmittag dazu, auf einer Parkbank einzuschlafen?“

„Wozu möchtest du das überhaupt wissen?“

„Ich bin Life-Coach. Habe mir gedacht, du könntest ein bisschen Coaching gut gebrauchen. Also?“

Zähneknirschend lenke ich ein. „Na gut. Es liegt an meiner Freundin. Naja, Ex-Freundin…seit zehn Tagen. Eigentlich hätte ich sie heiraten wollen, aber sie hatte wohl andere Pläne. Hat mir den Verlobungsring zurückgegeben. Wobei, nicht mal das hat sie geschafft.“ Ich merke, wie ich wütend werde. „Sie hat ihn einfach in einen Briefumschlag gepackt und ‘nen Text dazugeschrieben. Fing mit „Tut mir Leid“ an. Der Rest ist direkt im Müll gelandet.“ Meine Stimme überschlägt sich. „Genau wie der Scheißring!“ Ich merke, wie meine Augen feucht werden und versuche, die Tränen runterzuschlucken. Wer möchte schon vor einer Fremden weinen?

Aber Chris scheint mich zu verstehen. Nimmt mich in den Arm. „Lass es raus, das ist der erste Schritt zur Besserung.“

Nach einer Weile Schluchzen habe ich mich wieder beruhigt. „Was ist der zweite Schritt?“

„Kommt ganz darauf an. Möchtest du sie zurückhaben?“

Mein Herzschlag wird schneller. „Natürlich möchte ich sie zurückhaben! Aber wie soll das gehen?“

„Ich sagte doch, ich habe meine Kontakte. Und für eine kleine Gegenleistung…“

Ich unterbreche sie: „Was heißt hier Gegenleistung?“

„Naja, ich sorge dafür, dass deine Lisa zu dir zurückkommt und du tust im Gegenzug etwas für mich.“

„Wie soll das gehen?“

„Lass das meine Sorge sein.“

Ich überlege kurz. „Okay, rein theoretisch…also, nehmen wir an, ich…also wir, du könntest wirklich dafür sorgen, dass Lisa zu mir zurückkommt? Was müsste ich dafür tun?“

„Jetzt?“

Ich werde wieder ungehalten. „Ja, natürlich jetzt! Wann denn sonst?“

„Naja, normalerweise handhabe ich das anders.“ Chris bleibt total ruhig.

Es macht mich wahnsinnig. „Normalerweise? Machst du so verrückte Deals öfter?“

„Natürlich, was soll ich denn sonst machen?“

Mir schwant Übles. „Bist du der Teufel?“

Chris‘ Augen blitzen kurz auf. „Teufel? Himmel und Hölle, Gott und Teufel, am Ende ist das doch alles das gleiche, oder? Irgendwelche uralten Versprechen, die sowieso nie jemand einlösen wird. Aber ich kann mein Versprechen einlösen. Du könntest deine Lisa problemlos zurückhaben. Ich kann dafür sorgen, dass du eine zweite Chance mit ihr bekommst. Aber wenn du das nicht willst…“

„Warte! Natürlich will ich Lisa zurück! Aber ich will dafür nicht meine Seele verpfänden oder so’n Scheiß.“

„Ach was, du verpfändest mir doch nicht deine Seele. Du erklärst dich nur bereit, etwas für mich zu erledigen, wenn die Zeit gekommen ist. Manche von euch brauche ich sogar nie.“

Klingt komisch, denke ich mir.

„Aber fair!“

Ich zucke zusammen. „Du kannst Gedankenlesen?“

„Natürlich! Ich kann erloschene Liebe wieder aufflammen lassen, dagegen ist Gedankenlesen deutlich einfacher. Also?“

„Okay, du hast Recht. Klingt fair.“

„Gut. Dann viel Spaß mit deiner Lisa.“ Chris dreht sich um und will verschwinden.

„Warte!“, rufe ich ihr nach, „Müssen wir keinen richtigen Pakt schließen? So mit Vollmond? Muss ich keinen Vertrag mit meinem Blut unterschreiben?“

Sie beginnt herzhaft zu lachen. „Ach was! Du schaust zu viele Filme! Geh‘ einfach nach Hause, wenn du dich beeilst, bist du vor Lisa da. Aber sie liebt dich, also wird sie bestimmt ein bisschen warten können.“

 

Also sitze ich kurze Zeit später wieder in meinem Auto. Rase förmlich zurück zu meiner Wohnung. Mit schweren Beinen renne ich die Treppe zum dritten Stock hoch, aber von Lisa ist natürlich keine Spur. Stattdessen riecht es immer noch nach Alk‘ und Kotze. „Scheiße!“, rufe ich laut. Hoffentlich haben das die Nachbarn nicht gehört. Ich beginne, die herumliegenden Bierflaschen aufzusammeln, aber in diesem Moment klingelt mein Handy.
„Hallo? Benny?“ Ich erkenne Lisas Stimme sofort.

„Lisa? Oh mein Gott Lisa, du bist zurück!“ Ich war noch nie gut darin, meine Gefühle zu verbergen.
„Benny? Oh Benny, Mama geht es endlich wieder gut!“

Ich verstehe gar nichts mehr. „Mama? Was ist mit deiner Mutter?“ 

Lisa hält kurz inne. „Ach so. Scheiße. Das war ja nach unserer Trennung.“ Ich meine, ein kurzes Schluchzen zu hören, aber vielleicht hat sie sich ja nur geräuspert. „Zwei Tage nach dem ich bei dir raus bin, hat Mama einen Herzinfarkt gehabt. Intensivstation. Total hinüber. Wenn Sie bis nächste Woche kein Spenderherz gehabt hätte, hätten wir den Stecker gezogen.“ Jetzt weint sie wirklich. „Und…und heute gab es wie durch ein Wunder das Spenderorgan.“

Ich schlucke.

„Benny? Benny, bist du noch da?“

Ich räuspere mich kurz. „Ja, klar.“

Sie wiederholt sich. „Wie durch ein Wunder. Die OP lief super, vielleicht darf Sie nächste Woche wieder nach Hause!“

„Das…das ist klasse, Lisa!“

„Ja, und weißt du, was das Beste ist? Nach dem Aufwachen hat sie gesagt: „Jetzt bekomme ich ja doch noch Enkel!“ Benny…“ 

Ich kann fühlen, wie sie auf ihren Lippen herumkaut. Wie sie ihre schneeweißen Zähne in das zarte Fleisch vergräbt. 

„Benny, glaubst du, wir sollten es nochmal miteinander versuchen? Ich glaube, das war ein Wink des Schicksals.“

Ich denke: „Schicksal? Wohl eher Chris.“ Ich sage: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Schicksal ist. Zu dir oder zu mir?“

Ihr Lachen verrät mir, dass ich sie zurückgewonnen habe. 

 

*3 Jahre später*

 

Ich schrecke aus meinem Traum hoch. Aber nicht, weil ich so schrecklich geträumt habe, sondern weil mich etwas berührt hat. Meine Wange fühlt sich kalt an, wo der Finger sie gestreift hat. Ich blicke mich im dunklen Schlafzimmer um. Lisa ist auf Geschäftsreise. Ich bin allein. Oder ich wäre allein, aber in der Dunkelheit sitzt ein Schatten. Er hat mir den Rücken zugewendet, aber ich weiß  sofort, dass das kein „Er“ ist.

„Chris?“

Sie hat sich kein bisschen verändert. Nur die monotone Stimme ist neu: „Es ist an der Zeit, deinen Teil der Abmachung einzulösen, Benny! Steig‘ in dein Auto, dann erkläre ich dir den Rest.“

Ich blicke auf meine SmartWatch. 3:47 Uhr. Mir kommt ein Gedanke. „Was passiert, wenn ich mich weigere?“

Sofort jagt ein stechender Schmerz durch meine Stirn. 

„Würde ich nicht empfehlen.“ Sie lacht ein herzloses Lachen.

„Wo fahren wir hin?“

„Siehst du früh genug. Beeil dich, wir sind mindestens drei Stunden unterwegs!“

Drei Stunden? Da könnte man ja bis nach Österreich fahren.

„Wir wollen aber nur bis kurz vor die Grenze. Auf geht’s! Deine Schwiegermutter kann nicht ewig auf ihr Herz warten!“

„Das war vor drei Jahren!“ 

Chris lacht mich aus: „Ihr Menschen und eure Vorstellung, dass Zeit linear ist. Zu köstlich!“

 

Version 2