Von Patricia Finzel

Rot, wie Erdbeeren, Lippen, Blätter im Herbst. Rot wie – die erste Farbe des Regenbogens. Meine Mutter saß schon lange daran, ihn auf ein Blatt Papier zu bringen.

„Warum beendest du ihn nicht endlich?“, fragte ich sie einmal und zog einen Stuhl heran. Mutter hatte sich Buntstifte beiseitegelegt und brauchte eine Ewigkeit für ein Bild, das kleine Kinder in zwei Sekunden hinkritzeln könnten. Aber ich wagte es nicht, ihr das zu sagen. Früher hätte ich es vielleicht getan. Vor einem halben Jahr ganz sicher. Heute nicht mehr.

„Ich male nicht, um ein beendetes Bild zu haben, Schätzchen“, sagte meine Mutter und strich mir eine Strähne hinter das Ohr. Sie sah müde aus. Ausgelaugt. Am Ende ihrer Kräfte.

„Warum malst du dann?“

„Um mich zu erinnern.“

Zuerst verstand ich nicht, doch dann erzählte sie mir davon, dass jede Farbe etwas bedeutete und dass sie den jeweiligen Bogen erst beenden konnte, wenn sie fertig mit diesem Abschnitt war.

 

Rot bedeutete Ärger, Wut. Sie erinnerte sich an alte Konflikte, die sie immer noch wütend machte, und versuchte mit den Betroffenen in Kontakt zu kommen – der Wut Luft zu machen. Sie war engagiert dabei. Sprach sogar mit meinem Vater über die Scheidung, über die Art und Weise, wie er ihr wehgetan hatte. Sie sprachen über innere Narben, die sie nie angesprochen hatte, weil sie nicht wollte, dass er sich schlecht fühlte – und hatte damit in Kauf genommen, dass es ihr selbst nicht gut ging.

Sie sprach auch mit ihren Schwiegereltern, die sauer auf sie waren, da sie das alleinige Sorgerecht hatte und mein Vater mich nie sehen durfte. Sie wussten auch warum, aber wenn man Kinder hat, ist es schwer ihre Fehler genauso zu sehen, wie die Fremder.

Als sie nachhause kam wirkte sie, als hätte sie ein wenig Anspannung verloren und ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, denn einerseits wollte ich sie glücklich sehen, andererseits wusste ich jedoch nicht, ob ich sie loslassen sehen wollte.

Der erste Bogen war vollendet.

 

Orange, erklärte sie mir, findet man im Sonnenaufgang am Anfang eines Tages und in den Blättern am Ende des Sommers. Wie ein Zwischenstadium. Genau wie ihr Leben es gerade war.

Sie erinnert sich an alle alltäglichen Dinge im Leben, die guten und die weniger guten. Sie versuchte im hier und jetzt mit ihrer Familie zu leben. Wir taten Dinge, die wir früher häufiger gemacht hatten. Davor. Wir spielten Mensch-ärgere-dich-nicht mit Oma und Opa oder machten ein Picknick am Strand. Wir redeten über die Schule, Arbeit, das Wetter. Es war so normal, wie schon lange nicht mehr.

Manchmal sah ich, wie sie sich aus dem Gespräch ausklang und einfach dabei zusah, wie die Wellen an den Felsen zerschlugen oder wie wir redeten. Ich fragte mich, ob sie versuchte, diesen Moment fest in ihren Erinnerungen einzuspeichern, damit er nicht verloren gehen würde und jederzeit abrufbar wäre – das war es nämlich, was ich tat.

Sie hatte mittlerweile nicht mehr die Energie, um sich lange zu konzentrieren oder um mit mir am Meer zu rennen, wie wir es früher getan hatten – aber sie war bei uns und das war alles, was zählte.

Auch der zweite Bogen war irgendwann auf dem Papier.

 

Gelb. „Die Freude in meinem Leben“, sagte sie. „Du.“ Ich lächelte sie an und sie lächelte müde zurück. Seit mein Vater nicht mehr hier war, waren wir ein eingespieltes Zwei-Frau-Team. Wir machten sogar einen Wettbewerb aus dem Einkaufengehen, indem wir dabei unsere Zeit stoppen und immer wieder versuchten, schneller zu werden – was natürlich nur funktionierte, wenn man zusammenhielt. Das taten wir auch. Schon immer. Aber nun mehr denn je.

Wenn ich von der Schule kam, schaffte ich erst einmal Ordnung, weil ich wusste, dass Mama anderes im Kopf haben musste, als aufzuräumen.  

Wenn sie um diese Uhrzeit allerdings schon im Bett liegt, dann brühe ich eine Suppe und schalte ihre Lieblingsserie ein, damit wir uns gemütlich mit einer Decke vor den Fernseher setzen konnten.

Denn das war es, was ein gutes Team tat. Aufeinander aufpassen. Denn ein Team ist nur so gut wie der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe – und wir würden uns niemals gegenseitig im Stich lassen. In den nächsten Tagen gingen wir durch alte Bilderalben und erinnerten uns an die schönen Momente des Lebens. Ich hatte meine Mutter schon lange nicht mehr so lachen sehen, wie zu dem Zeitpunkt, in dem sie mir die alten Geschichten erzählte, zum Beispiel von ihrem ersten Date oder davon, dass sie mit ihren Freunden Schule geschwänzt hatte, um einen Roadtrip zu unternehmen. An diesem Tag musste sie sich dann jedoch vor lauter Anstrengung früher schlafen legen.

Bogen Nummer drei folgte darauf.

 

Grün. Die Farbe der Natur. Mama ging nach draußen und versuchte die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes einzufangen. Sie setzte sich gerne raus auf die Terrasse, aber seit sie nicht mehr zur Arbeit muss, ist sie selten aus dem Haus gegangen, abgesehen von den Arztbesuchen oder Einkäufen. Aber nun ging sie spazieren und versuchte den Vögeln und dem Rauschen von Bach und Bäumen zu lauschen. Sie versuchte wieder ins Gleichgewicht zu kommen, aus dem sie vor sechs Monaten herausgeraten war – als sich ihre Welt für immer verändert hatte.

Unsere Welt. Die, die wir mühsam hatten gemeinsam aufgebaut. Doch, obwohl unser Fundament stark gewesen war, drohte das Haus dennoch einzubrechen und alles, was wir tun konnten, war zuzuschauen, wie unsere kleine Welt in tausend Scherben zersprang. Als sie wieder zurückkam, nahm sie Tabletten.

Der nächste Bogen kam aufs Blatt.

 

Blau. Diesen Bogen malte Mama im Krankenhaus. Zum Glück war ich bei ihr, als es rapide Berg ab ging. Zum Glück saß ich neben ihr und hielt ihre Hand. Zum Glück sang ich ihr das Lied vor, dass sie mir immer vorsang, wenn ich zu viel Angst hatte. Zum Glück durfte ich mich von ihr verabschieden – denn das war nicht selbstverständlich.

Sie spüre nun eine gewissen Distanz zur Welt, sagte sie mir und die piependen Geräte, an denen sie angeschlossen war, unterstrichen diese Aussage. Genauso ihre Augen. Ich liebte Mamas Augen. Sie hatten immer etwas Lebendiges, Abenteuerlustiges. Sie erzählten Geschichten eines vergangenen Lebens, von dem ich nicht mal die Hälfte miterlebt hatte und von dem mir in Zukunft wohl jemand anderes erzählen muss. Doch nun sahen sie anders aus. Als hätten sie alles gesagt. Als wäre das Buch geschlossen und die Geschichte zu Ende. Als ich dies sah, wusste ich, dass es Zeit war Lebewohl zu sagen.

Genauso, wie sie von der Natur, musste sie sich auch langsam von uns und vom Leben verabschieden. Ich hatte noch nie so viel gelacht und geweint auf einmal und egal wie oft ich an diesem Tag, „Ich liebe dich“, sagte, ich wusste, es würde niemals genug sein. Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich mich sehnen würde, ihr dies noch einmal zu sagen. Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich mich sehnen würde, dass sie es zu mir sagt – doch dann wird sie nicht mehr da sein. Und ich werde ihr Gesicht nur noch in meinen Erinnerungen sehen und ich werde damit klarkommen müssen, dass ihre Umarmung mir in schlimmen Zeiten fehlen wird und es nichts und niemanden gibt, der ihre Präsenz jemals würde ersetzen können. Als sie am vorletzten Bogen angekommen war, zitterte ihre Hand und es war nun schwer für sie, Dinge zu halten, geschweige denn zu zeichnen.

Ich half ihr den Bogen zu vollenden.

 

Violett. Man findet die Farbe am Abendhimmel, bevor es dunkel wird – eine passendere Allegorie gibt es wohl nicht, wenn man daran denkt, was mir bevorstehen wird. Die Farbe steht zudem für den Abschied des Tages – oder auch für den des Lebens. Der letzte Blick nach hinten, bevor sich jemand auf eine neue Reise begibt. Mama war bereits aufgebrochen. Ich hatte den Fall vorhergesehen – für Monate wussten wir es – aber ich hätte mir niemals auch nur ausmalen können, wie tief er wirklich sein würde. Hätte niemals gedacht, dass ich so unvorbereitet war, wie ich es mich in diesem Augenblick fühlte. Sie war nicht mehr da.

Von einem Tag auf den Anderen.

Gestern hielt ich noch ihre Hand, hörte ihr zu, wie sie mir vom Leben erzählte und ließ mich von ihr trösten. „Schätzchen, für jedes Mal, wenn du mich sehen willst, schau auf den Regenbogen“, flüsterte sie mir ins Ohr. Auch sie weinte. „Schau auf ihn und erinnere dich an unsere Zeit.“

„Ich werde dich nie vergessen, Mama.“

„Ich weiß, Schätzchen, ich weiß. Ich wünschte nur, ich könnte meine Umarmungen in ein Glas stecken, damit du eine rausziehen kannst, wenn du es brauchst. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein.“

Sie war bei mir. Auch jetzt, als sie schon längst gegangen war. Und so lange ich den Schmerz spüren konnte, wusste ich mit Sicherheit, dass sie es auch war.

Nach ihrem Tod gab man mir all ihre Wertgegenstände, unter anderem das Bild mit dem Regenbogen. Eine Träne rollte meine Wange hinunter. Sie hatte ihn nie beenden können. Ihr Leben hatte aufgehört, einfach so, mitten im Satz – mitten im violetten Teil des Regenbogens.

Ich war froh, dass ich sie damals gefragt hatte, was sie da tat. Ich war froh, dass ich mich bei ihr hatte verabschieden können in den letzten sechs Monaten bis zu diesem schwarzen Tag. Ich war froh, dass ich sie hatte und dass sie gestorben ist, wissend, dass sie nicht allein war. Wissend, dass ich genau dort saß; neben ihr – so, wie es immer sein sollte. So, wie bei einem guten Team.

„Lass uns gehen, Kleines“, meine Großmutter stand im Türrahmen. Ihre Augen waren mit Tränen benetzt. Ich konnte mir nur vorstellen wie groß ihr Schmerz sein musste. Sie würde ihr Kind beerdigen müssen. Und ich meine Mutter.

„Ich komme“, erwiderte ich und warf einen letzten Blick auf das unvollendete Bild.

Ich hätte es so lassen können, schließlich war es „nur“ ein Bild. Aber das war es nicht. Es war so viel mehr als das und meine Mutter hatte ein anderes Ende verdient, deshalb kramte ich den violetten Stift hervor.

„Auf uns, Mama“, flüsterte ich. „Das beste Team, das die Welt je gesehen hat.“

 Nun setzte ich den letzten Strich für sie und beendete damit den Regenbogen.