Von Lea Naum

Ich sitze in meinem Büro und sage böse Worte zu meinem Rechner. Zum fünften Mal an diesem Tag hat er mich aus dem System geworfen. Während ich versuche, mich wieder einzuloggen, klingelt das Telefon. Och nee, nicht jetzt!

»Ja, bitte?«, frage ich und bemühe mich, die Gereiztheit in meiner Stimme zu unterdrücken.

»Ich bin`s. Kannst du kommen?«

Pfffffffff ….! In mir öffnet sich ein Ventil und alles, was mich im Moment beschäftigt, zischt wie ein langer tiefer Seufzer aus mir heraus.

»Na klar! Gegen 20:00 Uhr bin ich da!«, sage ich.

 

Wir sitzen in der Abendsonne auf der Dachterrasse und rauchen.

»Kannst du solche Kringel machen?«

»Keine Ahnung«, sage ich, »Habe ich noch nie probiert. Versuchen wir`s!«

Wir inhalieren, spitzen beim Ausatmen die Münder und machen Grimassen, bis wir lachen müssen.

»Aua …!«, sagt sie und krümmt sich in ihrem Liegestuhl.

»Mist!«, sage ich. »Wir dürfen vielleicht nicht so doll lachen.«

»Ist doch egal«, sagt sie.

»Das mit den Kringeln funktioniert bei uns irgendwie nicht«, sage ich.

»Der Heiner konnte Kringel!«, sagt sie.

»Welcher Heiner?«

»Den habe ich mal geliebt! So richtig, wenn du verstehst!«

Ich nicke. Während wir unseren unverschnörkelten Rauch in den makellos blauen Abendhimmel pusten, erschafft sie für mich Heiner. Er hat braune Locken, schlanke Hände und eine Ehefrau, die er am Ende doch nicht verlassen will.

»So was Gemeines!«, sage ich.

»Stimmt!«, sagt sie. »Aber schön war`s auch!«

»Da hast du auch wieder recht«, sage ich. »Und außerdem weiß man das ja vorher nicht!«

»Genau!«, sagt sie. »Kannst du morgen wiederkommen?«

»Sicher!«, sage ich. »Morgen ist Sonnabend, da kann ich auch eher.«

»Komm, wann du willst, du stehst ja auf der Liste.«

 

Die Liste! Wie mein Name da drauf gekommen ist, weiß ich nicht. Ich wusste nicht mal, dass es eine gibt. Jeder im Hospiz kann eine machen. Da sind die Leute notiert, die zu Besuch kommen können. Wieso ich auf ihrer bin, ist mir ein Rätsel. Wir waren nie befreundet. Sie ist eine ehemalige Kollegin aus einer Kanzlei, in der ich früher mal gearbeitet habe. Als sie mich vor drei Wochen urplötzlich anrief und mir erzählte, was los ist, war ich verdutzt und erschrocken zugleich. Aber ich habe nichts gefragt, sondern einfach nur »Ja klar!«, gesagt.

 

Sonnabend. Es ist kurz vor vier, als ich den Fahrstuhl betrete. Er fährt fast lautlos vom Erdgeschoß ohne Halt bis hinauf ins Dachgeschoß. Beim ersten Mal war ich fast panisch. Keine Knöpfe für die Etagen? Nur ein Notknopf? Worauf hatte ich mich nur eingelassen?

Jetzt mag ich ihn sehr. Sobald ich ihn betrete und sich die Tür leise schließt, versinkt alles, was vor fünf Minuten noch in meinem Kopf war, im Meer der Bedeutungslosigkeit. Mein Ärger über den Betrunkenen in der U-Bahn, den Topf mit dem Eingebrannten, die lärmende Bohrmaschine vom Nachbarn. Alles weg! Nur ich bin da, und sie und die anderen da oben, und die Zeit, die wir alle nur jetzt haben.

 

Ich klingle und sage ihren und meinen Namen in die Sprechanlage. Der Summer ertönt. Ich darf eintreten. Der Vorhof zum Himmel ist ein langer Flur mit dunkelblauer Auslegware. Rechts hat er eine Glasfront. Dahinter liegt die riesige Gemeinschaftsterrasse. Linkerhand geht es zu den Zimmern. Auf die hellblaue Wand ist ein langer Regenbogen gemalt. Rein ins Zimmer oder raus – immer geht man mitten durch den Regenbogen. Mir gefällt das. Manchmal steht vor einer der Türen eine brennende Kerze. Dann war der Tod der letzte Besucher. Ich weiß, dass er sich in alle Listen eingeschrieben hat. Trotzdem bin ich immer erleichtert, wenn ich auf dem Flur keine Kerze sehe. Heute leuchtet nichts.

 

Sie wartet schon. Ich sehe sofort, dass es ihr gut geht. Ich freue mich. Hier hat das Glück eh andere Namen. Es heißt Appetit haben, schmerzfrei sein oder gut Luft holen können.

 

»Komm, wir gehen raus zu den anderen«, sagt sie. Ich sehe durch die Glasfront auf die Dachterrasse. Am großen Tisch sitzt ein junger Mann in einem Rollstuhl, daneben zwei ältere Damen, eine davon mit Infusionsständer. Und eine Frau mittleren Alters mit einem imposanten Sonnenhut ist noch da. Wir gehen nach draußen.

»Nehmt Platz!«, sagt die Frau mit dem Sonnenhut. Ich schiebe zwei weiße Plastikstühle an den Tisch. Wir setzen uns. Schweigen. Wir schauen alle in den Himmel. Vögel kreisen. Weiter oben glitzern silbern die Flugzeuge. Über ihnen schimmern weiße Wolkenfäden und für das, was darüber vielleicht noch ist, hat hier jeder sein eigenes Bild.

 

»Ich will einen Ausflug machen!« 

Wir schrecken aus unseren Gedanken hoch.

Der junge Mann im Rollstuhl guckt herausfordernd in die Runde. Plötzlich richten sich alle Blicke auf mich.

»Ein Ausflug ist eine Runde über die Terrasse, den Flur lang bis zum Ende des Regenbogens und wieder zurück«, erklärt mir die Frau mit dem Tropf. Die andere ergänzt.

»Es ist Wochenende, da ist hier wenig Personal.«

»Ok!«, sage ich zu dem jungen Mann. »Machen wir den Ausflug!«

 

Wir drehen eine Runde über die Terrasse. Dann geht es in den Flur. Wir sind gerade an der langen Fensterfront unterwegs, als plötzlich direkt neben uns etwas gegen die Scheibe kracht.

»Ein Spatz! Ein Spatz!«, schreit der junge Mann und zeigt auf das kleine dunkelgraue Bündel, das draußen auf der Terrasse direkt vor der Scheibe liegt. Im gleichen Atemzug sehen wir den Greifvogel. Er schießt genau auf uns zu. Mit welcher Kraft auch immer, springt der junge Mann aus seinem Rollstuhl hoch, stürzt sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Scheibe und schreit aus Leibeskräften: »Hau ab, du Vieh, hau ab!«

Der Greif bremst. Seine Flügel scheinen rückwärts zu rudern, die krallenbewehrten Füße stehen waagerecht in der Luft und sein flaumiges Beingefieder hebt sich durch das Bremsmanöver an, wie ein Tüllröckchen. Kurz vor der Scheibe geht er in Schräglage und dreht in Sekundenschnelle ab. Weg ist er.

 

Der junge Mann ist an der Scheibe zusammengesunken. Ich beuge mich zu ihm runter.

»Geht`s?«, will ich wissen.

»Lebt er noch?«, fragt er.

»Wer?«

»Na der Spatz! Du musst raus und nachgucken!«

»Du musst erstmal wieder …«, insistiere ich.

»Ich muss gar nichts, es geht schon. Guck nach dem Spatz!«

»Gut, wie du willst!«, sage ich und schaue ihn prüfend an.

»Nun los, mach schon!«

»Ok!« Ich drehe mich um und renne den Flur entlang, bis zur Terrassentür. Raus – und entlang der Scheibe wieder zurück.

 

Wir treffen alle gleichzeitig beim Verunglückten ein.

»Atmet er?«, fragt die Frau mit dem Sonnenhut.

»Ich weiß nicht.«, sage ich.

Ich gehe in die Hocke. Aus den Augenwinkeln sehe ich durch die Scheibe, wie der junge Mann versucht, sich in den Rollstuhl zu hieven.

»Und?« Die Frau mit dem Infusionsständer ist so nahe gerückt, dass die Rollen des Gestells beinahe über meine linke Hand fahren.

»Was ist mit ihm?«, kommt es von oben.

Der Spatz liegt auf dem Rücken. Ich lege meinen rechten Zeigefinger sacht auf seine winzige Brust. Ich kann seinen Herzschlag spüren.

»Er lebt!«, sage ich. »Bestimmt ist er nur ohnmächtig!«

»Er braucht sicher Wasser!«, sagt eine der Frauen.

»Und Schatten, sonst trocknet er aus, so in der prallen Sonne!«, ergänzt die andere.

Ich rappel mich hoch. Die Frau reicht mir ihren Sonnenhut. 

»Leg ihn drüber, für den Schatten!«, sagt sie.

»Und Sie?«, frage ich.

»Ach, das geht schon!« Ihre dunklen Augen erscheinen sehr groß in ihrem kahlen Kopf.

Ich stülpe den Strohhut über den Spatz und gucke durch die Scheibe. Der junge Mann sitzt wieder im Rollstuhl. Unsere Blicke treffen sich. Er malt ein Fragezeichen in die Luft. Ich halte den rechten Daumen hoch. Er lacht und reißt wie ein Sieger beide Arme nach oben.

 

Im Wirtschaftsraum neben der Küche entdecke ich Einwegspritzen. Ich ziehe in eine davon Wasser auf. Im Müll finde ich eine leere Medikamentenschachtel und in einer Schublade eine Schere.

 

Wir sitzen im Halbkreis um die Unglücksstelle. Über den Spatz ist die Medikamentenschachtel gestülpt. Wir haben den Boden entfernt und eine Tür rein geschnitten, damit er raus kann, wenn er aufwacht. Alle 10 Minuten bekommt er einen Tropfen Wasser auf seinen kleinen Schnabel. In der Zwischenzeit reden wir über essbare Pilze, Haustiere, scharfe Gewürze, Unwetter und Zimmerpflanzen. Manchmal muss jemand kurz rein, wegen der Schmerzen, dem Schwindelgefühl, aufkommender Übelkeit oder einfach nur auf` s Klo.

 

»Psst!« Der junge Mann legt den einen Zeigefinger auf die Lippen. Mit dem anderem weist er auf die Schachtel. Sie wackelt. Wir halten die Luft an. Der Spatz hopst raus. Wir sehen uns an. Unsere Augen strahlen. Der Spatz wankt noch etwas hin und her. Dann hat er sich gefangen. Mit einem kräftigen Schwung hebt er sich in die Luft und flattert davon. Gerettet! Wir jubeln.

 

An diesem Abend legt sie mir bei der Verabschiedung ihre Hand auf den Unterarm, als wolle sie mich festhalten.

»Weißt du eigentlich, dass ich damals total verknallt in Dich war?«

Ich bin wie vom Donner gerührt. 

»Äääää … Neiiiin«, stottere ich. Und schiebe nach: »Davon hast du mir nie was gesagt!«

»Na, ist ja auch nicht so wichtig. Und nun ist es ja eh zu spät!«

»Naja, noch nicht ganz!«, sage ich.

 

Wir sitzen in ihrem Zimmer vor der Glotze und hecheln alle ehemaligen Kollegen durch. Dann reden wir über Mütter, Väter, Geschwister und alles, was dazu gehört. Ab und zu klopft der Nachtdienst und bringt Schmerzmittel, Wasser, Knabberzeug und einen Luftreifen, damit sie der Tumor beim Sitzen nicht so drückt.

Im Morgengrauen, als uns nichts mehr einfällt und wir einfach nur nebeneinandersitzen und zugucken, wie ein Serienkiller seinem nächsten Opfer auflauert, sagt sie auf einmal:

»Jetzt sind wir wie ein altes Ehepaar, findest du nicht?«

»Auf jeden Fall!«, sage ich. 

»Besser kann man das auf die Schnelle wohl auch nicht mehr hinkriegen!«, stellt sie fest.

»Der war gut!«, erwidere ich.

Wir sehen uns an und dann schütten wir uns aus vor Lachen.

 

Zweieinhalb Wochen später ist sie tot. Aber der Spatz lebt und die Erinnerung und meine Dankbarkeit, dass ich das alles erfahren durfte.

 

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