Von Renate Müller

Sie schwebte. Ihre Füße berührten kaum den Boden, ihr Herz tanzte über den Wolken. Die Sonne verscheuchte nur für sie die grauen Regenschleier und um sie herum wurde alles hell und klar. 

Langsam ging sie jetzt, nachdem sie eben nicht schnell genug durch die Straßen hatte laufen können. 

Sabrina nahm ihre Perücke vom Kopf und stopfte sie in ihre Tasche. Wie gut es tat, die Luft am Kopf zu spüren, den Wind im kurzen Haar. Nie mehr würde sie eine Perücke tragen; wie sie dieses Ding gehasst hatte, ein Symbol war die Perücke für sie gewesen. Genauso wie die Schwäche, die sie so oft überfallen hatte und mit der sie hatte leben müssen. Auch das war jetzt vorbei. 

Sabrina atmete tief ein. Sie tauchte aus einem Vakuum auf, so als hätte sie die vergangenen 26 Monate unter Wasser gelebt, wo sie nicht atmen konnte, wo sie nichts riechen, schmecken, fühlen konnte. 

Zum ersten Mal seit langer Zeit war ihr ganz leicht zumute, ohne dieses zerstörerische Monster auf ihrer Brust. Noch einmal holte sie tief Luft. Heute war ihr zweiter Geburtstag, der Tag, an dem ihr zum zweiten Mal das Leben geschenkt worden war.

Noch spürte sie das Zittern in ihren Knien, das schnelle Schlagen ihres Herzens auf dem Weg in die Klinik. Nur zögernd gestand sie sich die Angst ein, die sie gehabt hatte, als sie vor der Tür zum Sprechzimmer ihres Arztes gewartet hatte, auf sein Urteil gewartet hatte. Alle Mühe hatte sie sich gegeben, ihn diese Angst nicht merken zu lassen. Lächelnd und scherzend hatte sie sein Zimmer betreten, wie immer hatte sie gerade ihm beweisen wollen, dass sie sich nicht unterkriegen ließ. 

An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine Kinderzeichnung. Das Bild eines schiefen  Regenbogens, darunter ein winziges Mädchen, das auf die Stelle zulief, an welcher der Regenbogen die Erde berührte. Das Bild, auf das sie bei jedem Arztbesuch ihren Blick konzentrierte, während sie dem Arzt zuhörte. Auch heute hatte sie, während er sprach, den Regenbogen fixiert.  Dabei schien es ihr, als wäre das Mädchen dem Ende des Regenbogens heute nähergekommen. 

Sie hatte gesiegt, hatte die heimtückische Krankheit besiegt und war als gesund entlassen. Geheilt! Dieses Wort verlieh ihr Flügel. Sie tanzte, hüpfte über Pfützen und kickte Kieselsteine über den Weg. Keine Nässe und keine Kälte spürte sie, sie fühlte sich voller Energie. 

Sabrina roch das feuchte Laub, den metallischen Geruch des Regens, die frische kühle Luft. Sie hörte das Hupen ferner Autos, das Rascheln im Gras, das Gezwitscher der Vögel. Die Feuchtigkeit legte sich in winzigen Tröpfchen auf ihre Haut. 

Immer noch war sie ganz allein in diesem Teil des Parks, den jetzt vereinzelte Sonnenstrahlen beleuchteten. 

Vor ihr am Ende des Parkweges stand eine Bank, feucht vom vergangenen Regen und bedeckt vom welkenden Laub der Platanen. Sie ging darauf zu. Die Bank zog sie an. Einsam sah sie aus, hier kam sicher nicht oft jemand vorbei. 

Vor der Bank blieb sie stehen, innehaltend in ihrem Freudentaumel. Ihre Tasche, die ihr schwer auf der linken Schulter hing, rutschte hinunter. Sabrina stellte sie auf die Bank und blickte sie an. Ohne hineinzusehen, wusste sie genau, was die Tasche enthielt. Alles was darin war, gehörte zu ihrem Leben vor heute, zu dem Leben, das jetzt vorbei war. Endlich vorbei war. 

Die Perücke, die sie der Konventionen wegen getragen hatte, weil eine Frau eben nicht mit kahlem Kopf herumläuft. Weil eine Frau nicht durch ihre Haarlosigkeit jedem Menschen ihre Krankheit kundtat. Sie hätte damit kein Problem gehabt, sie hatte sich ihres kahlen Kopfes nicht geschämt. Aber es hätte gewirkt, als wollte sie auffallen, Mitleid erregen. Und dies wäre ihr zuwider gewesen. Alles nur das nicht. Nie hatte sie Mitleid gewollt. Das war mit das Schlimmste an der Krankheit, das Mitleid der Anderen. 

Auch die Kassetten waren noch in ihrer Tasche. Die Kassetten, auf denen ihr Urteil aufgenommen war. Der Tag, an dem sie diese Kassetten an sich genommen hatte, war ihr immer noch so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Albern war das gewesen, die Kassetten aus dem Recorder ihres Arztes zu nehmen, nachdem er ihren Befund darauf diktiert hatte. Damit hatte sie die Untersuchungsergebnisse nicht ungeschehen machen können. Ein Reflex war es gewesen, der sie hatte handeln lassen. Dem Arzt musste klar gewesen sein, dass sie die Kassetten genommen hatte, gesagt hatte er jedoch nie etwas. Er hatte eben ein zweites Mal diktiert, das Urteil blieb dasselbe. 

Sabrina hatte sich die Aufnahme auf den Kassetten nie angehört. Hören hätte Akzeptieren bedeutet. Und akzeptiert hatte sie diese gefräßige Bestie Krebs nie, gewehrt hatte sie sich, von Anfang an. 

Weil sie leben wollte. Und weil sie kämpfen wollte. Sich nicht ergeben, nicht aufgeben wollte.

Die Pillen, die sie hatte nehmen müssen, drei verschiedene Präparate. Deren Nebenwirkungen waren teilweise so heftig gewesen, dass sie gerne auf die Einnahme verzichtet hätte. Aber ohne diese Medikamente hätte sie die Chemotherapie nie durchgehalten. 

Das kleine blaue Schiffchen, das sie an ihrem Schlüssel immer bei sich trug. Es war das Bild ihres größten Traums, des Traums, den sie ihrer Mutter zuliebe aufgegeben hatte, weil die sie nicht gehen lassen wollte. Des Traums vom Leben und Arbeiten auf einem Schiff. Sie hatte ihrer Mutter nicht widersprochen, hatte sich ein schlechtes Gewissen gemacht, weil sie von ihr fortwollte, gab nach und ihren Traum auf. 

Die Arbeit im Reisebüro war kein Ersatz, im Gegenteil, jeden Tag anderen Luxuskreuzfahrten zu verkaufen, ließ die Sehnsucht erst recht in ihr sieden. Von klein auf hatte sie von Schiffen und vom Meer geträumt. Wenn ihre Freundinnen Prinzessin spielten, war sie der Seeräuber. Als ihre Klassenkameradinnen als Berufswunsch Friseurin oder Ärztin nannten, wollte sie Matrose werden. In den Ferien auf Amrum baute sie keine Sandburgen, sondern bettelte die Fischer so lange an, bis die sie auf ihren Kuttern mitfahren ließen.

Im Reisebüro roch es nach druckfrischen Katalogen und verstaubten Plastikmuscheln, nicht nach Seeluft und Meerwasser. Ihre Sehnsucht blieb.

Auch die Chilischoten hatte sie immer noch in ihrer Tasche. Und wer kann schon sagen, ob die es nicht waren, die letztlich die Krankheit besiegt hatten. Diese Schoten, die sie nach Anweisung der kolumbianischen Krankenschwester immer hatte bei sich tragen müssen, die ganzen zwei Jahre, und die sich auch jetzt wie immer in ihrer Tasche befanden. Juanita, diese schüchterne Schwester, die sie mehrere Monate lang in der Klinik betreut hatte und die so abergläubisch war, dass sie freitags keine Äpfel aß und in den Krankenzimmern, in denen ein Patient gestorben war, eine Münze unter der Matratze versteckte. Welche Wirkung die Chilischoten haben sollten, darüber hatte Sabrina sich nie Gedanken gemacht. Einfach alles versuchen, danach hatte sie in dieser ganzen Zeit gelebt. 

Juanita hatte sie bedauert, gemeint sie bemitleiden zu müssen, weil sie fast nie Besuch bekam. Weil sie so einsam war. Dabei war die Einsamkeit ihr Freund gewesen. Sabrina hatte die Einsamkeit gesucht, sich darin eingewickelt wie in einer warmen Decke. Das Mitleid und die Zuwendung der Schwestern und Ärzte in der Klinik waren für sie schwer zu ertragen gewesen. Auch darum hatte sie die Chilischoten angenommen, nehmen war einfacher gewesen als diskutieren. 

Und für den Fall, dass am Ende nichts hätte helfen können, auch für diesen Fall hatte sie vorgesorgt. Niemandem hatte sie davon erzählt. Niemand hatte gewusst, wie es in ihr aussah. Nicht einmal sich selbst gegenüber gab sie je wirklich zu, dass auch die Möglichkeit bestanden hatte, dass sie die Krankheit nicht hätte besiegen können. Für diesen Fall trug sie immer das Skalpell bei sich, von dem sie gar nicht mehr wusste, woher sie es hatte. Ein Skalpell war sicherlich nicht das schnellste und auf keinen Fall das zuverlässigste Werkzeug, ein Ende zu machen, aber all die anderen Methoden, die ihr einfielen, schienen auch nicht besser zu sein. 

Letztlich, das wusste sie heute, war es gleichgültig gewesen, was sie bei sich trug, da sie sich ohnehin nicht sicher war, ob sie im entscheidenden Moment diesen letzten Mut aufgebracht hätte. Es ging ihr nur um die Gewissheit, dass sie selbst es in der Hand haben würde, über die Art und Weise und den Zeitpunkt ihres Sterbens zu entscheiden. 

Zwischen den anderen Sachen steckte auch ihr Handy. Immer hatte sie es bei sich tragen müssen, die Notfallnummer unter Kurzwahl 1 gespeichert. Diese Abhängigkeit war nun auch vorbei, dieses Mobiltelefon würde sie nie wieder benutzen. Allein würde sie in Zukunft wieder zurechtkommen, auf niemandes Hilfe würde sie künftig mehr angewiesen sein. Keinen der Kontakte, die sie auf ihrem Telefon gespeichert hatte, würde sie vermissen. Abschließen mit allem. Neu anfangen. Dieser Gedanke war wie ein Energiestoß. 

Ein Blatt fiel von der Platane hinter der Bank, es segelt im Wind und schaukelte dabei hin und her, als könne es sich nicht entschließen, wo es landen solle. Sabrina beobachtete den Flug des Blattes unbeteiligt. Als es auf ihrer Tasche niederging und dort liegen blieb, war sie nicht wirklich überrascht, als hätte sie geahnt, dass genau dort das Ziel dieses Blattes war. Ohne darüber nachzudenken legte sie das Blatt obenauf auf die Dinge, die sich in der Tasche befanden. 

Sabrina löste das kleine blaue Plastikschiff vom Schlüsselbund und nahm es fest in ihre Faust, den Schlüssel ließ sie zurück in die Tasche fallen. Sie schloss die Handtasche mit einem entschiedenen, endgültigen Ruck und wandte sich um. Ohne zu zögern und ohne sich einmal umzudrehen, ging sie fort von der Bank, von der Tasche.

Sie lief mit sicheren, festen Schritten. Zu ihrem Ende des Regenbogens. 

 

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