Von Eva Fischer

Das Amselmännchen sitzt auf dem Kirschbaum und trällert ein Abendlied. Vielleicht will er ein Weibchen bezirzen? Vielleicht will er Konkurrenten ausschalten? Vielleicht auch beides. Wer weiß das schon so genau. 

Violetta hört den Gesang nicht.

Irgendwo schreit ein Kind, weil es keine Lust hat, ins Bett zu gehen. Lieber würde es noch mit seinen Freunden spielen, im Pool planschen, Fahrrad fahren. Egal, alles ist besser, als sich den Tag klauen zu lassen.

Violetta hört kein Kindergeschrei.

Die Wolken ziehen ihre Bahnen am abendlichen Himmel. Sie bauschen sich auf wie Petticoats und verwandeln sich anschließend riesigen Chamäleons gleich in zweiköpfige Krokodile, in fünfbeinige Elefanten, in tanzende Kängurus … 

Violetta sieht sie nicht.

Die Nachbarin raucht eine Zigarette. Die Schwaden wabern westlich über die Hecke in das angrenzende Grundstück.

Violetta riecht keinen Tabak.

Die Hitze macht der Abendkühle Platz. Eine Brise lässt die Blätter im Kirschbaum erzittern.

Violetta spürt sie nicht.

Violetta ist weder taub, noch blind, noch gefühllos. Sie lebt nur in ihrer eigenen Welt. Rastlos gleiten ihre Augen über das Buchstabenmeer vor ihr, das alle Regenbogen-Farben zum Leben erweckt.

 

Blaue Phase

Ihr fröstelt, auch wenn das Thermometer 25 Grad anzeigt.

Ein Kind wird missbraucht. Der Autor kennt kein Erbarmen. Er verschont sie mit keinem Detail. Violetta hatte nie ein Kind, aber sie denkt zurück an ihre eigene Kindheit. War sie glücklich? Eher nicht. Ihre Mutter hat immer alles für sie geregelt, ob Violetta wollte oder nicht. Einmal wäre sie ihr fast entflohen, als sie ein Jahr in Amerika verbrachte. Aber dann musste sie zurück, um das Visum zu verlängern, und ihre Mutter wartete mit einem Job für sie. Schon wieder hing sie fest, auch wenn sie kurz danach auszog, weil sie sich ständig fetzten.

Violetta klappt das Buch zu. Sie muss morgen früh aufstehen, denn sie hat einen Job als Sekretärin, darf noch ab und zu mit amerikanischen Firmen telefonieren. Das ist alles, was ihr vom „American Dream“ geblieben ist.

 

Rote Phase

Liebe endet nie glücklich, höchstens in Kitschromanen und die liest Violetta grundsätzlich nicht. Am Ende ist Liebe stets eine Illusion. Am Ende bleiben nur Scherbenhaufen zurück. 

Einst hatte Violetta auch ihren Traumprinzen gefunden, so schien es jedenfalls. Er besaß ein prächtiges Gutshaus, umgeben von einem Gärtner-gepflegten Park, in dem das Grün der Hecken, Sträucher und Bäume akkurat in Form geschnitten wurde. Allein einige Kübel mit blauen Hortensien wurden als Farbkleckse geduldet.

Der Prinz sah blendend aus, war jedoch leider nur ein Blender. Mehr und mehr würgte sie die Langeweile in seiner Anwesenheit und das Verliebtsein bröckelte ab wie von schlecht verputzten Wänden. Erst verstopfte sie sich die Ohren, um sein Schnarchen nicht mehr zu hören, dann nahm sie ihre Sachen und zog zur großen Enttäuschung ihrer Mutter aus.

„Kind, wie kannst du so eine tolle Partie sausen lassen!“

Ja, und was werden deine Freundinnen sagen, dachte Violetta spöttisch.

Liebe und Hass wohnen eng beieinander. Jetzt ist ihre Mutter tot und Violetta vermisst sie. Manchmal. Wenn Violetta krank ist und sich keiner um sie sorgt.

Ihr Vater vereinsamte ohne seine Frau und starb wenige Jahre später. Violetta hat gezögert, hat aber dann die elterlichen Möbel entsorgt und ist zurück in das Haus ihrer Kindheit gezogen.

 

Gelbe Phase 

Violetta mag kein Gelb. In ihrem Garten wächst keine einzige gelbe Blume. Sie hat keine gelbe Markise, keine gelbe Tischdecke, kein gelbes T-Shirt. 

Violetta mag auch die Sonne nicht, die sie zum Schwitzen bringt, ihr die Kehle ausdörrt.

In ihren Romanen verbindet Violetta gelb mit Macht. Macht über Menschen zu haben, darum geht es doch fast immer, nicht nur in der Politik, sondern auch in der zwischenmenschlichen Beziehung. Der Mensch lässt sich blenden wie sie sich einst von ihrem falschen Traumprinzen. 

Manchmal schöpfen die Menschen viel Kraft aus ihrem Hass und es gelingt ihnen, sich von den Blendern zu lösen, aber die Geschichte zeigt leider, dass der Kampf um die Macht nie endet. Die Blender sind einfach nicht auszurotten. Sie wachsen schneller nach als das Unkraut in ihrem Garten.

Violetta hasst besonders Löwenzahn, der sich als harmlose Pusteblume verkleidet, um sich dann tausendfach zu vermehren und sich hartnäckig in den Boden ihres Gartens festzukrallen.

Nein, für Violetta könnte man diese Farbe ersatzlos aus dem Regenbogen streichen.

 

Grüne Phase

Violetta liest pro Monat ungefähr zehn Bücher. Sie geht nicht mit ihren Freundinnen aus, die längst verheiratet sind und andere Interessen haben. Sie guckt abends kein Fernsehen, besucht kein Konzert oder Theater, höchstens eine Autorenlesung, denn sie bewundert Schriftsteller, die auf 600 Seiten eine eigene Welt zimmern, die der da draußen nicht unähnlich ist, eben nur spannender, ausgereifter, komprimierter, intelligenter!

Natürlich träumt Violetta davon, eines Tages zu dieser Adelskaste zu gehören, aber dazu müsste sie die Lesewelt mehr oder weniger hinter sich lassen, um in die Schreibwelt zu gelangen. Es ist so tröstlich, ein Buch zuzuklappen und zu wissen, dass das nächste schon auf sie wartet. Sie schaut auf ihre Wände, wo die Bücher vom Boden bis zur Decke wachsen. Blüten in Indigoblau, orange, violett schlängeln sich um ihre Rücken. 

Violetta breitet ihre Bibliomanie keine Sorgen. Zwar gibt es keine freien Wände mehr, weder im Wohnzimmer noch im Schlafzimmer, doch Kinderzimmer, Flur, Badezimmer, Küche verfügen noch über Kapazitäten. Zur Not könnte sie auch noch das Gartenhäuschen ausräumen und dort Bücher wachsen lassen.

Oder sie baut quer durch das Haus Bücherwege, Labyrinthe, aus denen nur sie herausfindet, und die gleichzeitig ein guter Schutz gegen Einbrecher wären.