Von Bernd Kleber

Grundstellung!

 

Das Kribbeln im Bauch war unangenehm. Als würde er jetzt zur Kür am Spannreck antreten müssen. Er hasste das Reck, war immer zu unsicher gewesen. Reck war einfach nicht sein Gerät. Der Barren besitzt zwei Holme, an denen man sich festhalten kann. Diese Sicherheit brauchte er. Und da war er Jugendmeister.

Genau das Gefühl, welches er nur vom Hochreck kannte, beschreibt seine Aufregung vor dem ersten Treffen. Sein Herz pocht schwer im Gleichklang seiner eiligen Schritte. Fast läuft er. Wie lange hatte er jetzt gechattet, Monate? Und die Gespräche hatten nicht nur dauernd von Sex gehandelt. Das war gut! Da ist das Café! Eintreten.

Ohrenrauschen.

Umblicken.

Ganz langsam, keine Hektik!

Roter Pullover, schwarze Locken?

Dort!

Das Herz will sich durch die Speiseröhre nach oben klimmziehen, nur Schlucken hindert es. Es muss zurück in seine Kammer, wo es wild hin und her springt, ausbrechen will.

„Hallo, Du bist sicher Marc!“, lächelt er ihn an. Er sieht in natura noch besser aus als auf den Fotos.

„Hei“, raunt der Schöne zurück. Mit einer einladenden Armbewegung deutet er auf die freien Plätze um ihn. Er selbst thront in der Mitte.

Manuel setzt sich in den Sessel, der ihn wohlig aufnimmt, umarmt, beruhigt.

Vor Marc steht ein Caipirinha. Manuel will dicht bleiben und bestellt einen Mojito.

Stockend aber charmant startet das Gespräch, sie sehen sich in die Augen, atmen den Duft des anderen.

 

Felgaufschwung!

 

Sie lachen. Unter dem Tisch reibt Marc sein Knie an dem Manuels. Von dort durchströmen wohlige Schauer Manuels Gefäße, seine Muskelstränge ziehen sich zu Marc. Alles in ihm, will sich wie eine warme süße Masse um den Mann wickeln. Seine Zähne blitzen ihn an wie Stroboskope in einem Dance-Club. Manuel holt tief Luft. Seine Hände zittern leicht.

Man tauscht Telefonnummern aus. Marc rückt ganz nah, seine Lippen berühren Manuels Ohr als er fragt, ob dieser mit zu ihm wolle. Manuel sieht in Marcs Augen und verneint, er werde das Treffen sacken lassen. Sie sollten sich wiedersehen, hoffe er.

„Wie Du meinst, ganz schön oldscool“, lehnt sich Marc zurück und sendet ein gut trainiertes Killer-Smile.

 

Kippe im Ristgriff!

 

Manuel steht auf, verabschiedet sich und geht, obwohl in seinem Körper die Endorphine Alarm schlagen und alle Körperflüssigkeiten nur in eine Richtung wollen.

Zuhause angekommen, versichert Manuel mittels Messages sofort, wie schön das Treffen war und wie gerne er Marc wiedersehen wolle. Er lädt ihn zum Essen ein. Sein Puls erhöht sich dabei wieder. Dieser Mann soll sein Ehemann werden, mit ihm wolle er gute und schlechte Zeiten des Lebens meistern und in Glück und Frieden, treu ergeben, mit ihm zusammenleben. Sie hatten im Gespräch so viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Mochten die gleiche Musik, den gleichen Sport, dieselben Outfit-Marken. Und er würde doch sicher auch eine geborgene Zweisamkeit schätzen.

Noch immer erinnerte er sich an den edlen Duft von Bleu de Chanel und noch immer honorierte er das perfekte Männer-Make-Up, keineswegs tuntig. Er will zurück und in seine Arme.

 

Felgumschwung!

 

Noch nie hatte er einen Mann. Seit seinem Coming Out träumte er von Mann, Ehe, Haus, Hund … unbedingt in dieser Reihenfolge. Sein Herz war offen für eine Beziehung. Eine Beziehung, wie seine Großeltern ihm vorgelebt hatten. Die beiden Alten waren immer respektvoll und liebevoll miteinander umgegangen, hatten immer ein Lächeln füreinander und gaben sich zärtliche Küsschen. Bis sein Opa starb und kurze Zeit später die Oma ihm folgte. So wollte er auch alt werden.

Vielleicht auch ein Kind adoptieren?

 

Schwungstämme rückwärts!

 

Es klingelt. Marc!

Manuels Herz trällert „One moment in time …“ für diesen elementaren Augenblick. Jetzt würde sich entscheiden, was die Zukunft bringt.

Manuel sah wieder besonders aus. Seine Augen funkelten bei verschmitztem Lächeln. Der Raum war erfüllt vom Duft des begehrten Mannes, Küsschen zur Begrüßung. Und er wartete mit einem Geschenk auf.

 

Riesenfelge im Zwiegriff!

 

Eine Regenbogenflagge! Stone Wall Inn und Christopher Street lassen grüßen. Manuel lächelt breit und schlägt die Fahne zur vollen Größe auf. Beide pinnen sie hinter dem Bett an die Wand. Sie straucheln dabei auf der weichen Matratze, kippen, fallen, miteinander, aufeinander, ineinander, warm, feucht, hart und tief…

Als Marc am Abend sich verabschiedet, liegt Manuel unter dem Regenbogen und träumt. Lächelt! Singt.

Somewhere over the rainbow, way up high
There’s a land that I heard of once in a lullaby
Somewhere over the rainbow, Skies are blue,
And the dreams that you dare to dream, really do come true…”

 

Kammgriff … Gienger-Salto!

 

Marc sendet Mobilnachrichten. Nachrichten mit Fotos von Partys. In den Armen anderer Boys.

Manuel sieht und begreift nicht. Manuel hat andere Antworten auf seine Textnachrichten mit pulsierenden Herzen erwartet.

 

Kontergrätsche im Freiflug!

 

Endlich sehen sie sich wieder. Manuel beteuert seine Gefühle, seine innigen Gedanken, seine Zukunftspläne. Marc grinst, als er hört, er war der Erste.

Marc möchte nicht sein Einziger sein. Marc redet von Leben, Freiheit, Selbstbestimmung. Er redet von Schönheit, Vielfalt, Genuss. Er beschreibt Vorlieben, Abenteuer, Neugierde und Zugewinn. Und er betont, das macht man heute so. Manuel sei sehr altmodisch, besitzergreifend und egoistisch.

Manuel hat das Gefühl, dass diesmal sein Magen fluchtartig seinen Körper verlassen will und wieder hilft nur Schlucken.

 

Jägersalto … Ellgriff!

 

Manuel umarmt Marc und bietet Alternativen an. Offene Beziehung. Gleichklang. Gemeinsame Partys. Erfüllung aller Vorlieben. Und er spricht von Liebe, meint einen Unterschied zu spüren zwischen Liebe und Sex.

Marc lacht, befreit sich aus der Umarmung, nennt sie Umklammerung. Sagt, man sei doch erwachsen und Eifersucht sei eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Er sei kein Besitz. Er wolle sein Leben genießen, wie alle. Er möchte mehr, mehr, mehr. Er lacht und berichtet von Abenteuern, zu viele Details.

Manuel geht ins Bad und übergibt sich. Als er zurück ins Zimmer kommt, ist Marc nicht mehr anwesend.

 

Tkatschow-Grätsche!

 

Manuel geht es schlecht. Er war beim Arzt. Ist krank, geht nicht in die Uni. Er liegt auf dem Bett und sieht in den Regenbogen.

„Someday I’ll wish upon a star
And wake up where the clouds are far behind me
Where troubles melt like lemon drops
Away above the chimney tops, that’s where you’ll find me…”

Erwachsen sein. So hat er sich das nicht vorgestellt. Er denkt an HIV und andere Geschlechtskrankheiten und fragt sich, ob das Freiheit ist. Die Freiheit, krank zu werden. Er fragt sich, ob er altmodisch ist und den Spirit der Zeit verpasst hat. Er denkt an seine Großeltern.

Manuel ist überzeugt, auch er hat ein Recht, in Freiheit und erwachsen zu entscheiden, dass er nicht Sex wie Sport im Fitnessclub, überall verfügbar, ausführen möchte. Dass er der Liebe den ersten Schritt vor der Körperlichkeit geben will. Er fragt sich, warum Sex und Lust Ware des täglichen Bedarfs sein sollen und ob das allgemeingültig ist. Er fragt sich, was ist das Schöne, wenn Körperlichkeit einem wiederkehrenden Felgaufschwung gleicht.

Und er ist sich sicher, dass es anders geht. Jemand ist da draußen in dieser weiten Welt, der das auch so sieht. Denn seine Großmutter prägte auch, dass jeder Topf einen Deckel finden würde. Niemand bleibt allein auf der Welt.

Manuel recherchiert und stellt fest, dass er nicht typisch schwul ist. Schwul wie alle die Zombies, die hier in der Großstadt in die Saunen, Clubs mit Darkroom eilen. Er wird nicht nach dem Austausch von Fotos mit Intimabbildungen einen Nachmittag im Bett eines Fremden verbringen. Dann ist er eben homosexuell und demisexuell. Anders ist es nicht möglich. Eine Minorität der Minderheit!

Er klettert auf das Bett, nimmt die Regenbogenfahne ab und faltet sie zusammen. Dann legt er sie in die Schublade mit den unwichtigen Dingen…

 

Loslassen! Perfekter Stand!

 

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