Von Michael Voß

Emil steht auf einem Stuhl am Küchenfenster und hält Ausschau nach dem Opa-Auto. Es gießt in Strömen.

„Mistwetter!“, seufzt Mama.

„Es gibt kein Mistwetter, nur falsche Anzieh-Sachen!“, kräht Emil fröhlich. 

„Ich höre deinen Opa reden! Außerdem heißt es Kleidung, nicht Anzieh-Sachen. Was hat er dir sonst noch über den Regen erzählt?“

„Wenn dabei die Sonne scheint, kommt der Regenbogen und freut sich.“

„Woher weiß dein Opa, dass ein Regenbogen sich freuen kann?“ 

„Opa weiß alles!“, strahlt Emil. 

„Nur nicht, dass ein Sechsjähriger noch nicht differenzieren kann!“

„Doch! Opa weiß das! Er sagt, Diffirenz-Rechnen kommt ganz später in der Schule!“

„Es heißt Differentialrechnung!“, stöhnt Mama. „Und darum geht es auch überhaupt nicht!“

Emil zeigt aus dem Fenster: „Da! Opa kommt!“

Er hüpft vom Hocker, rennt in den Flur und öffnet die Haustür. 

Opa steht unter dem Vordach. Wasser perlt von seinem Regen-Poncho und bildet kleine Pfützen um seine Stiefel.

„Opa, Opa!“

„Emil, mein Junge!“

Opa zwinkert, legt den Finger auf die Lippen und lupft den Poncho mit dem Flecktarnmuster. Emil versteht sofort, setzt seine Füße auf Opas Stiefel und umarmt ein Opa Bein. Dann fällt der Poncho wieder herab.

Opa ruft: „Carolin! Emil will dir was zeigen!“

„Muss das sein?“, klingt es genervt aus der Küche.

„Muss nicht! Aber wenn du sehen willst, wie dein Kind bei dem Wetter Verstecken spielt, solltest du herkommen.“

Mama stürzt heran. „„Das darf doch wohl nicht wahr sein! Emil? EMIIIL! Wo bist du? Komm sofort ins Haus! Du holst dir noch den Tod! Mensch, Papa!Wie kannst du den Jungen nur ohne Regenzeug nach draußen lassen? Wo ist er hin?“

Opa hebt den Poncho an und Mama fängt an, mit Opa zu schimpfen. 

Emil versteht nicht, was Mama schon wieder hat. Aber seit Papa woanders wohnt, lacht sie sowieso kaum noch.

Jetzt kommt die Sonne zwischen zwei Wolken hervor. 

„Die Sonne scheint. Wo ist der Regenbogen?“, ruft Emil.

Mama hört auf zu schimpfen.

Opa streicht Emil über den Kopf.

„Das finden wir raus! Auf dem Beobachtungsstand.“

Mama seufzt: „Muss das sein, dieser Jargon? Beobachtungsstand! Du bist nicht mehr bei der Truppe! Schon vergessen?“

Opa knallt die Hacken zusammen und salutiert: „Jawoll, Frau Hauptfeldwebel! Melde: Pensionierung glatt vergessen!“

Er dreht sich zu Emil um.

„Alarm! Alle Mann auf ihren Posten!“

„Klar bei Beobachtungsstand!“

Emil flitzt die Treppe hoch. Unter dem Dachschrägenfenster in Emils Zimmer steht der Turm, ein hoher Hocker mit Geländer und Leiter. Den Turm haben Opa und Emil gemeinsam gezimmert. Wenn Emil darauf klettert, kann er aus dem Fenster sehen. Das Fenster, was jetzt ein Beobachtungsstand ist. Hat Opa gesagt. 

Euphorisch ruft er: „Regenbogen gesichtet!“

Jetzt ist Opa da und reicht Emil den Feldstecher. „Sag Junge, wie ist die Peilung?“

„Ende vom Bogen nahe Donnereiche auf der Buchenhöhe! Viertausend auf zehn Uhr. Meinst du, wir schaffen es?“

„Was schaffen?“, keucht Mama, die jetzt auch ins Zimmer kommt. 

„Rechtzeitig dasein!“

„Ich verstehe nicht, wovon du redest, Emil!“, sagt Mama ärgerlich.

„Er meint, da zu sein, wo der Regenbogen die Erde berührt“, erklärt Opa ruhig.

„Genau! Dann graben wir das Gold aus!“, freut sich Emil.

Mama wird schon wieder unwirsch.

„Papa! Erzähl dem Jungen nicht immer so einen Unsinn! Es gibt kein Gold am Ende des Regenbogens!“

„Wo steht das?“

„Nirgends. Denn niemand ist je am Ende eines Regenbogens gewesen, weil der Bogen sich mit dem Beobachter fortbewegt.“

„Also, da haben wir es doch!“, sagt Opa.

Mama guckt jetzt so wie die Leute, die nichts verstehen.

„Was haben wir da?“

„Na, wenn noch niemand dagewesen ist, hat auch noch niemand beweisen können, dass es dort kein Gold gibt.“

„Du machst mich komplett wahnsinnig!“, stöhnt Mama und geht raus.

 

Emil freut sich. Im Opa-Auto darf er vorne sitzen, weil es hinten gar keine Sitze hat. Da liegt nämlich Opas Ranger-Ausrüstung. Denn Opa ist jetzt beim Forstamt, in Alters-Teilzeit. Das Beste daran ist: Opa darf in seinem Wald Auto fahren. So wie jetzt. Er schaltet den Allrad-Antrieb ein und lenkt den leichten Geländewagen über Stock und Stein in Richtung Donnereiche. Dabei hat Emil den Kompass im Auge, damit sie nicht vom Kurs abkommen. Außerdem ist Emil zuständig für den Neigungsmesser. Er muss Opa warnen, bevor das Auto umkippen kann. Sie durchqueren einen Bach, ziehen mit der Seilwinde einen umgestürzten Baum vom Weg und sind endlich auf dem Rücken des kleinen Höhenzuges, den Emil von seinem Fenster aus sehen kann.

Doch sie haben Pech. Der Regenbogen ist weg! 

Emil ist enttäuscht.

„Schade! Ich wollte doch einmal einen Schatz ausgraben!“

„So schnell geben wir nicht auf“, sagt Opa und macht die Heckklappe auf. 

„Aber ohne den Regenbogen wissen wir nicht, wo wir graben sollen. Außerdem ist der Schatz jetzt ja auch wieder weg!“

„Woher willst du wissen, ob der Regenbogen den Schatz mitnimmt oder liegen lässt?“

Emil überlegt. Darüber wird in dem Märchen nichts gesagt. Opa hat Recht: Der Schatz kann genauso gut noch da sein. 

„Die Lichtung ist größer als unser Schulhof. Wie sollen wir den Schatz nur finden?“

Opa zieht ein längliches Gerät aus dem Auto.

„Hiermit.“

„Ein Metallsucher!“, ruft Emil aufgeregt.

Opa lässt Emil beim Auto mit dem Detektor üben, während er selbst eine Runde über die Lichtung geht, um „die Lage zu erkunden“. Das hat er bei der Bundeswehr immer so gemacht. Dann sucht Emil zusammen mit Opa das Gelände ab. Zwischen Gras und Steinen findet er eine alte Konservendose, ein verrostetes Sturmfeuerzeug und drei Kronkorken. Bald ist Emil müde. Doch Opa ermutigt ihn, noch ein bisschen weiterzusuchen. Tatsächlich fängt der Detektor wieder an zu piepen, ganz in der Nähe der Donnereiche. Dieses Mal liegt kein Metallstück auf dem Boden.

Jetzt ist Emil ganz aufgeregt: Was immer es auch ist, es muss IN der Erde liegen! 

Opa geht zum Auto, um den Spaten zu holen.

Emil ist zu zappelig, um zu warten. Mit den Händen fängt er an zu graben. Da, wo der Detektor gepiept hat, ist eine kleine Kuhle. Die Erde darin ist ganz lose und Emil kommt schnell voran.

Jetzt ist Opa wieder da. Er legt den Spaten hin und geht neben Emil auf die Knie.

„Oho! Was ist das denn, Emil?“

„Ein verlassener Fuchsbau, Opa?“

„Richtig erkannt. Woran hast du erkannt, dass er verlassen ist?“

„Weil der Eingang schon verschüttet war.“

„Sehr gut, mein Junge. Dann guck mal rein, bevor wir den Spaten ansetzen.“

Opa reicht Emil eine Taschenlampe.

„Ein Schlüsselmäppchen! Opa, da liegt ein Schlüsselmäppchen!“

Das Mäppchen liegt ein Stückchen weit im Gang. Emil muss sich auf den Bauch legen und den Arm ganz lang machen, um es mit den Fingern fassen zu können. Stolz zieht er seinen Fund hervor, ein abgewetztes, kleines Lederetui mit Reißverschluss. 

Darin befinden sich Münzen, zumeist 10, 20 und 50 Cent-Stücke.

„Sieht so aus, als ob jemand sein Kleingeld verloren hat“, sagt Opa. 

„Wie schade! Ich hatte mich auf einen Topf mit Gold gefreut.“

„Naja, es ist eben eine Sage, das mit dem Topf.“

„Dann hat Mama ja doch Recht, dass das alles Unfug ist“, sagt Emil enttäuscht.

„Das denke ich nicht. Mit den Sagen ist es so wie bei dem Spiel stille Post: Die Botschaft verändert sich, je öfter sie weitergegeben wird. Aber das Wichtige bleibt oft erhalten. Überleg mal, was du gefunden hast.“

„Kleingeld.“

„Ja. Und jetzt überleg mal, welche Farbe die Münzen haben.“

Emils Herz beginnt zu klopfen: „Golden! Sie sind golden und sie glänzen! Ich habe einen kleinen Schatz gefunden! Also stimmt das Märchen doch, Opa!“

„Ob es nun stimmt oder nicht: von dem Geld können wir deine Mama einladen!“

Selig und schlammverschmiert geht Emil mit Opa zum Auto zurück.

 

Mama hat keine Chance. Sie darf das Wohnzimmer nicht zu Ende saugen und auch nicht erst noch die Spülmaschine ausräumen. Opa erlaubt ihr nur, Emil saubere Sachen anzuziehen.

Dann gehen die Drei zu Luigis Eisdiele, wo Emil stolz seinen Fund präsentiert. 

„Und das hast du da gefunden, wo du vorher das Ende des Regenbogens gesehen hast?“, fragt Mama erstaunt. 

„Ja“, nickt Emil eifrig.

„Hm, sieht aus wie eine Parkgroschensammlung. Ich frage mich nur, warum die mir so bekannt vorkommt“, sagt Mama und wirft Opa einen bedeutsamen Blick zu.

Opa zuckt mit den Schultern und bestellt drei Schatzgräberbecher.

„Der steht doch gar nicht auf der Karte!“, sagt Mama kopfschüttelnd.

Opa lacht und zwinkert Luigi zu: „Macht nichts! Luigi kennt das Rezept: drei Kugeln gemischtes Eis mit Sahne. In einer der Kugeln ist eine Pistazie versteckt.“

„Si, si, Commandante!“, lacht Luigi. „Dreimal Ssatzgräba por familia?“

„Und einen Latte für die bezaubernde Signora“, sagt Opa. 

Mamas Gesicht wird weich und ihre Augen beginnen zu glänzen.

„Ach Papa, du Charmeur!“

Glücklich schleckt Emil sein Schatzgräbereis. Endlich sieht er Mama wieder lächeln.

 

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