Von Vivienne Bieri

«Schau! Ein Regenbogen!» Milla`s aufgeregte Stimme riss mich aus meinem Halbschlaf. Sie stand am Fenster und wedelte wild mit den Armen umher, während ich mich genervt Richtung Wand abdrehte, um ihr Gekreische auszublenden. Sie liess mich nie in Ruhe schlafen.
«Ich hab keine Lust zu schauen,» murmelte ich, «sei leise, ich schlafe.»
«Aber schau doch, er ist so schön! Weisst du, am Ende des Regenbogens liegt ein Schatz.» Sie hatte es offensichtlich nicht verstanden. Die Brünette sprach noch genauso laut wie vorher, wenn nicht noch mehr. In unserem kleinen, weissen Zimmer gab es leider keine Möglichkeit, mich vor ihr zu verstecken.
Ich seufzte und hielt mir die Hand vor den Mund, um zu gähnen, bevor ich sagte: «Davon hab ich schon gehört.»
«Eines Tages werde ich mir diesen Schatz holen, komme, was da wolle. Der Schatz gehört mir. Ich werde ihn ganz sicher finden, wie schwer kann es schon sein? Ich muss nur dem Regenbogen folgen.» Dieser Enthusiasmus, den sie an den Tag legte, war zu viel für mich.
«Dafür müsstest du es aber erst mal hier raus schaffen.» Wir teilten uns schon seit Monaten ein Zimmer und keine von uns hatte es seitdem auch nur vor die Mauern des Gebäudes geschafft. Wir waren hier gefangen, ob es uns passte, oder nicht. Es gab kein Entrinnen.
«Das werde ich schon, mach dir keine Sorgen. Irgendwann schnapp ich mir das Gold und kauf mir davon alles, was ich will. Ein Auto, Feuerwerk, Knoblauch.»
«Um dich mache ich mir keine Gedanken, ich denke nur an mich. Du kannst meinetwegen auf ewig hier drinbleiben. Und ein Auto? Warum denn ein Auto? Du kannst ja gar nicht damit fahren!»
Milla lächelte und zog ihre Augenbrauen in die Höhe, die Arme verschränkt vor dem weissen Kittel: «Das kann ich lernen, wenn ich hier rauskomme. Traust du mir das nicht zu?»
Ich traute ihr vieles zu, sehr vieles, aber sicheres Autofahren gehörte nicht auf jene Liste.
Auf den Rücken drehend, starrte ich frustriert an die Decke. «Lass mich einfach in Ruhe, ja?»
«Da hat aber heute jemand miese Laune. Aber jetzt schau hin, sonst ist der Regenbogen gleich wieder weg.»
«Mich interessiert dein dummer Regenbogen kein bisschen.» Wieso hatte ich bloss kein Einzelzimmer? Ich hätte sogar eins mit Sicht auf den Innenhof genommen, wenn das bedeuten würde, dass ich mir Millas Stimme nicht immerzu anhören müsste.
«Aber willst du denn nicht wissen, was ganz am Ende liegt? Da gibt`s bestimmt ganz viel Kohle, oder Diamanten!»
«Das glaubst du doch wohl selbst nicht.» Neugierig geworden, stand ich doch auf, um mich neben meine Zimmer Kumpanin ans Fenster zu stellen und nach draussen zu blicken. Der Regenbogen war weit weg, noch hinter den Häusern der Stadt. Die Strassen glitzerten vom Regen in der Sonne.
«Warst du schon mal da?» fragte sie mich.
«Wo? Am Ende des Regenbogens? Ne.» Ich war noch nirgends gewesen, nicht mal über die Landesgrenze hatte ich es bisher geschafft. Ständig sah ich nur das Gleiche, Tag ein, Tag aus.
«Na dann hör auf so zu tun, als ob du wüsstest, was da liegt. Es ist bestimmt besser, als ich mir überhaupt vorstellen kann. Das muss das Beste der Welt sein. Das Fantastischste, das Atemberaubendste, das-»
«Wie viele Adjektive fallen dir noch ein?» wollte ich lachend wissen.
«Wenn du mir genug Zeit lässt, dann komm ich bestimmt auf hundert.»
Ich sah wieder hinaus, wo der Regenbogen in all seiner Pracht erstrahlte und die karge Gegend interessanter machte, als sie es jemals zuvor gewesen war. Wie oft hatte ich schon aus diesem Fenster gestarrt, ohne je etwas zu entdecken. Ich kannte jede Hausecke, jede Busstation, jeden Mülleimer, der von hier aus zu erkennen war. Sogar die Gesichter der Menschen, die tagtäglich auf dem Bürgersteig zur Arbeit und wieder zurückliefen, waren für mich keine Unbekannten. Doch so schön wie heute war die Aussicht noch nie gewesen.
Die Stimmung war anders, als sonst. Ungewohnt friedlich, fast schon bezaubernd.
«Ich glaub ich weiss, was am Ende meines Regenbogens ist,» stellte ich fest, ein Lächeln im Gesicht.
«Was?! Wirklich? Sag! Was ist es? Ist es Gold? Es ist ganz sicher Gold! Vielleicht Bargeld?!» Milla kriegte sich nicht mehr ein, sie sprang von einem Bein aufs andere, die Augen starr auf mich gerichtet.
«Eigentlich weiss ich es nicht,» gab ich zu, «aber wir könnten es zusammen herausfinden, eines Tages. Wenn all das hier vorbei ist. Du und ich zusammen, am Ende des Regenbogens. Dann finden wir raus, was für dich dort liegt.»
Noch bevor Milla auf meinen Vorschlag reagieren konnte, hörten wir das Rascheln eines Schlüsselbundes, kurz darauf wurde die Tür zu unserem Zimmer geöffnet. Es waren Frank und Hilde, die dort standen, beide mit strengen Mienen, wie gewohnt in grauer Uniform. Frank hatte seine Haare geschnitten, er trug nun einen Millimeterschnitt.
«Eva,» beide sahen zu mir, «du hast Besuch.»
Freude stieg in mir auf, als ich langsam zur Tür schritt, die Augen voller Hoffnung. Wie lange hatte ich darauf gewartet, diese Worte zu hören? Wie viele Stunden waren vorübergegangen, aus dem Fenster starrend, nach jenem Schatz sehnend, den mein Herz begehrte?
Ich musste nicht wissen, was ganz am Ende des Regenbogens lag, denn ich hatte meinen Schatz schon längstens gefunden. Er war da und doch so fern von meiner Welt. An dem Tag, an dem ich ihn wieder in den Armen halten und festdrücken konnte, würde ich alle Sorgen für immer vergessen.
Jener Tag, an dem ich wieder eine Mutter sein konnte, ihr Kind in den Händen haltend. Das würde der Tag sein, ganz am Ende des Regenbogens, die Farben über mir und die Wärme im Herzen.