Von Anne Zeisig

„Unsere Mutter war wirklich“, die Stimme meiner kleinen Schwester erstickte im Tränenstrom, „sie liebte das Leben“, und rückte vor ihren blassen Lippen das Mikrophon zurecht. „Sie war besonders.“

Gebrochen diffus fiel das flache Sonnenlicht dieses schönen Herbsttages durch die bleiverglasten Fenster der Kapelle auf den hellen Sarg.
Mittig darauf war ein üppiges Bukett aus weißen Rosen drapiert und daneben stand ein Porträt von ihr.
Das sei Mode, so ein Foto. Meinte Vater.
Es war leider ein ‘Schwarz-Weiß-Bild’.

„Aber sie liebte doch bunte Wildblumen“, wisperte ich meinem Vater zu, der mit gefaltenen Händen gebeugt neben mir saß.
Ich starrte weiterhin auf das Blütenweiß.

„Psst“, zischte er. „Weiße Rosen haben mir besser gefallen.“

Typisch für ihn!
Immer hat er Mutter seinen Willen aufgezwungen. Auch jetzt noch.

„Sie liebte ihren Garten mit all den wunderschönen farbenfrohen Blüten zu jeder Jahreszeit“, ließ ich nicht locker.
Mein Herz pochte, ich zitterte innerlich, meine Kehle fühlte sich trocken an.

Er machte eine abwehrende Handbewegung.

Schwesterherz blickte zu uns hinüber und wischte sich mit dem Handrücken über ihre Augen. „’Kraut und Rüben’ hatte unser Vater immer zur Gartengestaltung von Mami gesagt.“
Sie rang sich ein Lächeln ab.

Nun überzog mich eine Gänsehaut und ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind inmitten der Blumen saß und die Schmetterlinge, aber besonders die Bienen, um mich herum flirrten und in der grellen Mittagssonne summten, emsig von Blüte zu Blüte flogen, den Nektar einsaugten.
Und ich atmete das Leben tief in mich ein, jung und frisch wie ich war.
Meine Schwester lag im Körbchen auf der Veranda, war tief im Schlummer versunken.
Plötzlich rissen die Wolken auf und ein kühlender Sommerregen verschaffte den Pflanzen eine Atempause von der Hitze, die Tropfen perlten von Blüten und Blättern ab, versickerten ins Erdreich, oder verdunsteten vorher.

Unsere Mutter war rosawangig in ihrer Kittelschürze auf die Terrasse getreten und das Mehl vom Backen schimmerte weißlichgrau in ihrem dunklen Haar.
Sie atmete die geklärte Luft tief in sich ein.
„Man kann die fruchtbare Erde riechen! Und dort! Schau!“
Ich blickte in die Richtung, welche sie mit ausgetrecktem Zeigefinger anzeigte.

„Ein Regenbogen“, jauchtzte sie mit heller klarer Stimme. „Schau! Diese Farben!“

Ich besah ihn mir.
Er begann im Irgendwo und endete im Nirgendwo.
Keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, bis mir ein klammes feuchtes Gefühl den Wink zum Aufstehen gegeben hatte.
Mutter stand nicht mehr vor dem Haus unter dem überdachten Freisitz. Aber ich wollte sie doch fragen, wo ein Regenbogen beginnt, wo er aufhört, und ob man womöglich hindurch gehen könne.

Neugierig stapfte ich über den durchnässten Rasen, wischte mir meine klebrigen Haare aus der Stirn, sah ins Fenster hinein, wo sie auf dem Küchentisch lag und ein fremder Mann über ihr gebeugt keuchte, bekam Angst, weil sie so laut Stöhnte und Wehklagte.

Stürmte hinein und schlug diesen Fremden: „Lass meine Mutter in Ruhe!“, schrie ich und sank erschöpft auf die kühlen Fliesen, als er endlich von ihr abließ.

Ich floh nach draußen zwischen ihre Blumen, weil es beruhigend war, die moderige Erde zu riechen.

Mutter war mir gefolgt, nahm mich in den Arm und wiegte mich hin und her: “Ich werde geliebt! Auch wenn du das noch nicht verstehst. Das muss dich nicht ängstigen.“ Strich mir beruhigend übers nasse Haar, küsste mich immer wieder.

Ich schluchtzte in ihren warmen Körper hinein: „Will wissen, wo der Regenbogen beginnt und endet, Mama.“

„Dein eigener Regenbogen begann mit deiner Geburt und er wird mit deinem Tod enden.“ Ich spürte ihre Hand, wie sie meinen Nacken kraulte. „Aber bis dahin vergeht noch eine Ewigkeit.“

* * *

„Aber die weißen Rosen hätten ihr bestimmt gut gefallen“, sagte meine Schwester abschließend, senkte den Kopf.

Vater lächelte leise, nickte wohlwollend, blickte mich boshaft an.

Ich erhob mich abrupt, ließ meine Schuhabsätze laut,sehr laut, auf den Boden auftreten und legte einen bunten Strauß über das Einheitsweiß und sah beim Herumdrehen aus den Augenwinkenkeln einen Mann in der letzten Reihe sitzen, der mir irgendwie bekannt vorkam.
Er lächelte mich warm an.

anne z. END version