Von Renate Oberrisser

Regentropfen fallen vom Himmel. Sammeln sich in ihrem Haar. Verirren sich in ihren Nacken und den Kragen ihrer Jacke. Laufen in kleinen Rinnsalen an den Ärmeln entlang. Sammeln sich vor ihren Füssen. Sie sollte die Kapuze aufsetzten. Doch der Gedanke verliert sich in den welligen Kreisen in der Lache vor ihr.  Gebannt starrt sie in dieses hypnotisierende Tropfenspiel.  Tropf, tropf, tropf … es scheint so fremd und doch vertraut. Unerwartet klart es auf und der Vollmond lugt hinter den Wolken hervor. Für einen kurzen Moment erscheint vor ihren Augen, wie eine Fata Morgana, ein Regenbogen, ein Mondregenbogen. „Wo bist DU?“, geht es Rea durch den Kopf, „wo finde ich DICH?“

 

Rea sitzt vor ihrer ersten Tasse Kaffee. Es ist wie immer noch viel zu früh. Doch diese immer wiederkehrende innere Unruhe und diese sich häufenden Regenbogen-Träume haben sie zu nachtschlafender Stunde aus dem Bett getrieben. Am liebsten würde sie  draußen herum laufen, durch die leeren Straßen, durch die schlafende Stadt.  Es ist wieder so weit. Seit unzähligen Jahren. Immer wieder, hofft sie, DICH zu finden, wo immer DU auch sein magst. DU suchst das Ende des Regenbogens, hast DU ihr anvertraut und dann bist DU verschwunden, in den frühen Morgenstunden, damals, im April. In den ersten Jahren bist DU immer wieder aufgetaucht. Mal kürzer, mal länger, nie geblieben. Die Hoffnung stirb zuletzt, und Rea hoffte jedes mal, dass DU bleibst, für immer. Lange hat sie sich den Kopf darüber zermartert, was geschehen war, um DICH zu verlieren. Was DICH endgültig vertrieben hat. Und wo sich der Lichtbogen spannt, an dessen Ende sie DICH wieder finden könnte. 

 

Der Morgen verspricht einen schönen Tag und die ersten Sonnenstrahlen zaubern ein Lächeln auf Reas Gesicht. Nach dem endlos scheinenden Winter, zeigen sich die ersten Tulpen in den Vorgärten. Langsam fährt sie mit dem Rad durch die sich regende Stadt. Es ist noch immer viel zu früh und sie wird wie immer die Erste sein. Doch in den eigenen vier Wänden hält sie noch immer nichts. Auch jetzt nicht, obwohl Len schon vor Wochen ausgezogen ist und es endlich ihr Reich sein könnte. Rea tritt fest in die Pedale, fährt an ihrem Ziel vorbei. Die Bewegung und der frische Fahrtwind bringen ihren Geist dazu sich zu aktivieren. Längst Vergessenes windet sich an die Oberfläche und fordert Aufmerksamkeit. Wie von selbst führt sie ihr Weg aus der Stadt raus. Magisch angezogen von Erinnerungen fährt sie weiter, immer weiter ins Blaue. Sie sollte jemanden informieren, dass sie heute nicht pünktlich eintrifft, sich verspätet, was sonst nie der Fall ist. Oder besser, dass sie beschlossen hat, heute gar nicht zu kommen.

 

 „Beschlossen?“ Verwundert schüttelt Rea den Kopf. Wann hatte sie zuletzt etwas beschlossen, etwas für sich beschlossen. Meist hatte Len etwas für sie beschlossen. Ohne nachzufragen, ob sie das auch möchte. „Aber Rea! Kleines!“, waren immer seine Worte. „Du möchtest doch, dass wir zusammen sind. Erfüllt man deine Wünsche, bist du undankbar.“ Innerlich kocht sie, bei dem Gedanken an ihn und tritt noch fester in die Pedale. Hin und wieder überholt sie ein eiliger Autofahrer auf ihrem Weg. Auf der Gegenfahrbahn wird der Verkehr in die Stadt immer dichter, der   Schleichweg für Insider ist längst Geschichte. Und Rea fährt und fährt und fährt … immer weiter ins Blaue. 

 

Obwohl ihr, nach dem steilen Anstieg vor Anstrengung heiß ist, fröstelt Rea bei der Talfahrt nach *Ort am Stadtrand*. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr jedoch, dass der erste Morgenansturm in der Bäckerei schon vorbei ist und sie unbehelligt ein heißes Getränk und ein frisches, verführerisch duftendes Gebäck zu sich nehmen kann. Eine Verschnaufpause, um ihre überstürzte Abfahrt zu überdenken und das sich bereits unzählige Male meldende Handy zu checken. „Sorry. Akku leer. Musste erst Steckdose finden“, tippt sie, „muss dringend Familiäres erledigen. Komme heute nicht mehr. Melde mich später. LG!“ „Für’s Erste muss das reichen“, gesteht sie sich zu. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Len schon gar nicht. Der soll sich jemand anderen suchen, der ihm den Rücken frei und den Kopf hinhält. Anwärter für ihren Job gibt es einige. So abwegig erscheint ihr diese Überlegung auf einmal nicht mehr. „Ja, es gibt andere dafür“, murmelt sie vor sich hin. Einmal ausgesprochen, beginnt sich die Idee zu verselbständigen. Erleichtert lässt sie sich auf den für eine Bäckerei recht gemütlichen Sessel fallen und bestellt eine heiße Schokolade und ein Krokant-Croissant – welche Sünde! Während sie auf ihr zweites Frühstück wartet, verspürt sie einen gesunden Appetit darauf, wie schon lange nicht mehr. Die ungewohnte körperliche Aktivität pumpt noch immer Adrenalin durch ihren Körper und sie fühlt sich, trotz schwerer Beine, wie neu geboren. Das Mädchen hinter der Theke bereitet die Schokolade zu und stellt neben dem Croissant noch ein Glas Wasser auf das Tablett. Freundlich wünscht sie Rea einen ‚Guten Appetit‘ und bedient  gut gelaunt eine neu eingetroffene Kundin. Rea bewundert den Einsatz, mit dem das Mädchen seiner Arbeit nachgeht. Sie bedankt sich für das tolle Service mit einem großzügigen Trinkgeld und verlässt, angesteckt von dieser Zufriedenheit, voller Elan den Laden. Draußen schaut sie sich nach der nächsten Bushaltestelle um. Ihren Bestimmungsort mit dem Rad erreichen zu wollen, wäre ein kurzfristig nicht schaffbares Unterfangen. 

 

Die kurze Wartezeit verbringt Rea, in sich gekehrt, auf der Bank im Wartehäuschen. Sie schaut einem kleinen Mädchen zu, dass an der Hand der Großmutter unbeschwert über den Schutzweg hüpft und ihr fröhlich  zuwinkt. Das herzhafte Lachen und muntere Geplapper der Kleinen ist erfrischend.  Einen kurzen Moment glaubt Rea, dass das kleine Mädchen ihr auch etwas zurufen will. Eine Feder, zart wie ein Feenflügel, weht an ihrem Gesicht vorbei und lenkt ihren Blick vom Kind ab. Quietschende Reifen und das Zischen einer sich automatisch öffnenden Tür erschrecken Rea. Im letzten Moment greift sie nach ihrer Tasche und schon steht sie im Bus und kauft ein Ticket nach *Dörfl am Gebirgshang*. „Genießen Sie die Fahrt. Um diese Zeit garantiert Nonstop!“, verrät ihr der Chauffeur verschwörerisch und gibt Gas. Am Fenster zieht ein sich allmählich änderndes Szenarium vorbei. Rea labt sich an der immer grüner und hügeliger werdenden Natur. Sanftes Schaukeln und monotones Brummen lassen ihre Augen schwer werden. Der richtige Zeitpunkt um eine Rast einzulegen, denk sie noch und taucht in eine mystische Wunderwelt ein.

 

„Fräulein, hallo, Fräulein, aufwachen.“ Sanftes Rütteln und eine tiefe Stimme dringen langsam zu ihr vor. „Rea, komm. Rea schau.“ Aufgeregtes Rufen und übermütiges Lachen verhallt in der Ferne.  Rea schüttelt verschlafen den Kopf. „Wo bin ich?“,  fragt sie verwundert. „Wir sind in *Dörfl am Gebirgshang*, im Elfendörfl. Dort wo Sie hinwollten, junges Fräulein. Ich dachte, Sie werden von alleine munter, wenn ich anhalte. Aber jetzt muss ich mich auf den Rückweg machen. Und ich vermute, dass hier jemand auf Sie wartet. Zumindest haben Sie im Schlaf einige male ‚Wartet auf mich, ich kann nicht so schnell‘ gerufen. Vergessen Sie ihre Tasche nicht. Die letzte Fahrt zurück ist um 19 Uhr, falls Sie nicht doch länger oder für immer bleiben wollen.“ Wissend zwinkernd wendet der Fahrer seinen Bus. 

 

Rea steht am Straßenrand. Zögernd setzt sie einen Schritt vor den anderen. Ob das eine gute Idee ist, beginnt sie sich zu fragen. Das Ergebnis ihrer letzten übereilten Entscheidung ist ihr noch gut in Erinnerung und schmerzt, trotzt dem vorhersehbaren, unabwendbaren und befreienden Ende. Ein Blick auf ihre Schuhe offenbart ihre einzige Unbedachtheit in diesem Unterfangen. „Daran soll es nicht scheitern. Wenn es sein muss … es gibt ja Wasser, Tautropfenwasser.“ Welch eigenartige Dinge manchmal aus ihrem Unterbewusstsein aufblitzen.  Entschlossen marschiert sie die Straße entlang, ihrem Ziel entgegen. Mit jedem Meter, den sie zurücklegt, scheint sie leichter zu werden. Jeder Schritt befreit sie von einer zentnerschweren Last. Aus der Straße wird ein schmaler Pfad und aus dem Pfad ein noch schmalerer Steig. Immer höher und steiniger wird ihr Weg. Immer leichter und luftiger scheinen ihr ihre Schritte. Bis sie das Gefühl hat zu schweben. Ihre Schuhe fallen zu Boden. Die Tasche fällt hinterher. Das Handy zerspringt an einem Stein in seine Einzelteile. „Ich bin dort, wo ICH hingehöre!“ ist die letzte Mitteilung, die es versendet. Kein Anschluss unter dieser Nummer, das Einzige was Anrufer künftig hören. 

 

Rea zappelt kurz ungewohnt in der Luft, bis sie wieder Sicherheit verspürt. Sicherheit, dass ihre Flügel sie tragen, wie sie es schon vor vielen Jahren taten. „Wartet auf mich, ich bin noch nicht so schnell.“ ruft Rea dem ausgelassenen Lachen entgegen, das über die sonnige Blumenwiese zu hören ist. Trunken vom Blütenduft taumelt sie den anderen hinterher. Freudig wird sie aufgenommen in die Runde. Emsiges Sammeln und Pflücken. Gemeinsames Hand in Hand.  Neckisches Fangen geht in vergnügtes Verstecken über. Sanfte Stimmen summen feine Lieder, erzählen von der Kraft der Erde, der Wärme der Sonne und dem Wunder der Schöpfung. Über einem kleinen Wasserfall spiegelt sich das Sonnenlicht in einem farbigen Lichtbogen. Erschöpft vom munteren Toben, lässt Rea sich in ihrem zu Hause, am Ende des Regenbogens, nieder, und vereint sich wieder mit DIR, ihrem Elfennaturell, zu einem Wesen der Natur.

 

Ein abrupter Ruck lässt Rea erschrocken hochfahren. Sie stößt sich den Kopf an der Rückenlehne vor ihr. Benommen nimmt sie wahr, wie der Bus in die Haltestelle einfährt. Sie nimmt ihre Tasche und steigt aus. Vor ihr liegt noch ein steiler Weg zum Haus ihrer Großmutter und ein ebenso steiniger Weg zurück in ihre Eigenständigkeit. Aber sie weiß jetzt auch, dass sie DICH dort findet, am Ende des Regenbogens. 

 

Version 2