Von Yasemin Eycan

Es war ein Tag wie jeder andere. Jeden dieser Tage liebte ich, denn ich verbrachte sie in der Villa Wertheimber im Gustavsgarten, dem Stadtarchiv von Bad Homburg. Zu Johann Christian Friedrich Hölderlins Zeiten, der am 20. März 1770 geboren wurde, hieß die Stadt noch Homburg. 

Hölderlin wurde bei Lauffen am Neckar und ich in Kiel geboren. Weder er noch ich kamen also aus Bad Homburg, doch waren in diese Stadt immer wieder zurückgekehrt. Ich weiß nicht wieso aber, schon seitdem wir seine Gedichte in der Schule gelesen hatten, spürte ich eine gewisse Nähe zu ihm, die ich nicht so recht beschreiben konnte. Ich bin nun über 50 Jahre alt, aber werde jedes Mal zu diesem Kind aus der Grundschulzeit, wenn ich Gedichte von Hölderlin lese oder mich mit ihm beschäftige. Er ist einfach mein absoluter Lieblingsdichter und ich kann nicht sagen, wieso oder was genau ich an seiner schwer zu begreifenden Dichtung mag. Vielleicht gefällt mir einfach auch die Tatsache so sehr, dass Hölderlin selbst 1804 eine Anstellung als Bibliothekar in Homburg angenommen hatte. 

Jedenfalls hat mich diese fesselnde Nähe zu ihm ins Stadtarchiv Bad Homburg geführt, in dem ich seit mehr als drei Jahren bereits arbeite. Ich hätte liebend gerne wie Hölderlin Theologie in Tübingen studiert, aber ich merkte, dass mir das nötige Interesse für die Religion fehlte. Also studierte ich stattdessen Kunstgeschichte und Geschichte und machte danach eine Ausbildung zum Archivar.

Ich bin und bleibe eine Leseratte. Ich halte mich gerne in Bibliotheken oder Stadtbüchereien, Bücherläden, Museen oder Kunstgalerien auf. Die innere Ruhe, in die man an diesen Orten hineinversetzt wird, ist einfach genauso schwer in Worte zu fassen, wie das Gefühl solch langweilige Dinge spannend, fast schon existentiell, zu finden.

In unserem Archiv bewahren wir wertvolle historische Bücher, Dokumente, Fotos und Zeitungen auf. Wir verfügen über Literatur und reiches Quellenmaterial zur Bad Homburger Stadtgeschichte, zu der Hölderlin unbestreitbar mit dazugehört. Was ich auch noch sehr cool an unserem Stadtarchiv finde ist, dass man Bücher ebenfalls spenden und Bestände des Archiv im Lesesaal kostenlos ansehen kann. Hinzu kommt noch, dass ich die Führungen durch das Archiv leiten kann und es mehrfach im Jahr zu Veranstaltungen kommt. 

Ich bin so begeistert von meinem Beruf, dass ich jungen Menschen den Rat gebe, sie sollen später dort arbeiten und das machen, was sie jeden Tag aus dem Häuschen reißt. Ich bin zwar unverheiratet und habe auch keine Freundin, aber ich fühle mich trotz allem glücklich. Ich bin dankbar für jeden einzelnen Tag und jede vergehende Sekunde, dass ich gesund bin, für mich selbst sorgen kann, wenige dafür aber gute Freunde habe, die ich anrufen kann, wenn es mir schlecht geht oder sonst etwas los ist und meine Eltern und Geschwister noch am leben sind. 

Eine Frau wünsche ich mir schon gerne. Aber die Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, die waren nicht so nett zu mir. Ich glaube sogar, dass sie mich für einen leichtgläubigen Kerl hielten. Nun, sie hatten sicherlich ihre Gründe dafür. Ich erinnere mich, dass ich diesen Frauen stets das kaufte, was ihr Herz begehrte. Im Nachhinein war das vielleicht falsch, denn sie wollten immer teure Dinge von mir. Ich fand zwar auch, dass ich ihnen diese Sachen nicht hätte kaufen müssen, aber wenn ich sah, wie glücklich ich sie damit machte, dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. Dass ich danach so gut wie gar kein Geld mehr hatte, wurde mir erst später klar, als mir meine Bank ein Schreiben schickte, in dem ich die hohe Summe meiner Schulden las. Ich wunderte mich, wie ich in so kurzer Zeit solch einen hohen negativen Betrag in meinem Bankkonto aufweisen konnte. 

Weil mir diese Trennungen das Herz gebrochen hatten, beschloss ich, ohne es wirklich mit mir selbst zu besprechen, es keiner Frau mehr so einfach zu machen. Außerdem, wer so viel Erfüllung und Frieden in seinem Beruf findet, der braucht keine Frau, um sich glücklich zu fühlen, stimmt´s? 

Stimmt. Und dennoch wäre es traumhaft, abends nicht alleine ins Bett gehen zu müssen. Wie schön wäre es, wenn ich mich an eine gutherzige Damen klammern könnte, die mich in den Schlaf wiegen würde.

Nachdem wir die Jubiläumsfeier anlässlich des 250. Geburtstags von Hölderlin wegen Corona absagen mussten, holten wir die Feierlichkeiten in diesem Jahr nach. 

Am Dienstag den 21. September 2021, also gestern, fand um 18:30 Uhr in der Villa Wertheimber, in meinem geliebten Bad Homburg, der Vortrag vom Prof. Dr. Geisenhanslüke statt, der an der Goethe Universität Frankfurt, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt. Diesen Vortrag habe ich mir mit Begeisterung angehört. Alle Plätze waren belegt. Dieses ist ein Meisterwerk der Dichtung. Außerdem unterscheidet es sich von anderen Gedichten, die er verfasst hat. Hölderlin stand am Ufer der Garonne und  beschrieb die Umgebung mit eigenen Augen nach topographischen Gegebenheiten, und nicht nach einer imaginierten Landschaft. 

Auf alle Fälle geschah an diesem Mittwochvormittag den 22. September 2021 etwas, dass die ganze Hölderlin-Forschung erschüttern würde. Das letzte Mal, als ich auf die Uhr gesehen hatte, war es vielleicht 09.35 Uhr gewesen. Einige Sekunden später fand ich ein Blatt in der Akte, in der wir alle handgeschriebenen Tagebucheinträge von Hölderlin aus den Jahren 1801 bis 1804 bewahrten. Und wenn ich alle meine, dann spreche ich eigentlich nur von zwei Briefen, die er an seine Mutter geschrieben hatte. Aus seiner Zeit in Frankreich ist sehr wenig bekannt. Sicher ist, dass er in dem Gedicht Schmerz verbundene Erfahrungen von Exil, Einsamkeit, Trauer um abwesende Freude und Liebesverlust verarbeitet werden und zum Ausdruck kommen. 

Wie auch immer dieses Blatt in die Akte gekommen sein möchte, ich konnte meinen Augen, meinen Händen und meiner Nase nicht trauen. Ich roch an dem Blatt. Dieser Geruch kam mir nur zu bekannt vor. Dies konnte keine Fälschung, kein blöder Witz oder eine Täuschung gewesen sein. Das war ein echtes Zeitdokument. 

Ich wollte eine Kollegin rufen, da ich eine weitere Zeugin brauchte, die mir diesen unglaublichen, an ein Wunder grenzenden Fund bestätigen konnte. Aber mein Mund öffnete sich nicht. Ich brachte es nicht zustande ein Wort auszusprechen. Mir schnürte sich die Kehle zu. Meine Zunge war blockiert. Auf dem Zettel stand mit einer schier unlesbaren Handschrift „Bordeaux den, 06 Juni 1802. Ein Sonntag.“ Ich las dieses Datum unzählige Male und konnte es kaum glauben, dass ich dieses unbezahlbare Stück altes Papier in den Händen hielt. Dabei stellte ich mir aber tausend Mal, wie dieses Blatt in die Akte gekommen war? 

Wir würden es mit hundertprozentiger Sicherheit von einem Experten auf seine Originalität überprüfen lassen, sobald ich es jemand anderen gezeigt hatte, aber ich war mir jetzt schon durchaus sicher, dass dies unbestreitbar ein originales Dokument war, das Hölderlin höchst persönlich mit seinen Fingern verfasst hatte. 

Ich traute mich kaum, zu versuchen, die wirklich sehr schwer zu entziffernden Buchstaben zu lesen, die schwungvoll und elegant zu Worten und Sätzen gefasst worden waren. Jedoch auch dafür war ich ausgebildet worden. Handschriften und Buchstaben aus vergangenen Zeiten zu entschlüsseln war zwar nicht Teil meiner Ausbildung als Archivar gewesen, aber das hatte ich mir in Weiterbildungen dazu geeignet. Also ließ ich die Scheu beiseite, nahm hektisch ein Blatt und einen Bleistift in Hand, um Fehler schneller radieren zu können, und fing mit dem Übersetzen an. Bei den ersten Worten, die ich übersetzen konnte, raste mir das Herz. Meine Hände zitterten und ich beschloss das geheimnisvolle Blatt auf den Tisch zu legen. Die Aufregung dich ich fühlte, war kaum in Wort auszudrücken. Dafür aber war sie ungeheuer stark in meinem Inneren zu fühlen. 

Ich las nicht laut vor. Der Klang der Worte, die in mir erhallten, war laut genug. 

 

„Ich kann es nicht mehr aushalten. Meine Gefühle, meine Gedanken, 

meine Sinne, mein Geist, meine Seele, nenne man es wie man es nennen 

möge, sie sind am Ende. Ich habe keine Energie mehr. Ich fühle mich 

kaputt, wie eine Maschine, die einst sowieso nicht fehlerfrei funktionierte. 

Ich weiß auch nicht so recht, wie ich mein derzeitiges seelisch zerstörtes

Ich in einem Tagebucheintrag beschreiben könnte. Ich fühle, dass irgend-

etwas in mir abgeht, aber wenn ich versuche, Worte dafür zu finden, will

ich den Stift aus den Händen legen und das Papier, auf dem ich schrieb,

verbrennen. So vieles in meinem Leben, von dem ich nicht mehr weiß, ob

es überhaupt Leben genannt werden sollte,ist schief gelaufen. Ich weiß

nicht, zu was ich geworden bin, wer ich jetzt bin, wer ich sein wollte oder

wer ich sein sollte. Alle Wünsche und Hoffnungen, Erwartungen und Pläne

sind gescheitert. Nichts ist so gekommen, wie ich es mir ausgemalt hatte. 

Ich weiß, wie ich mich fühle. Ich will es mir aber nicht gestehen. Wenn 

ich Sätze über meinen Geisteszustand schreiben würde, die weder lyrisch

sind noch literarisch, dann hätte ich ihnen Legitimität gegeben. Sie wären

dann meine Wirklichkeit, vor der ich wegzurennen versuche. Ich trage jetzt

schon ihre Fesseln, von denen ich mich nicht losreißen kann. Da hatte es 

jemanden gegeben, der ich befreit haben könnte. Jemand ganz Besonderes,

dem ich nicht nur vertraute und liebte, sondern mit der ich auch gerne

alles, was mich zu Johann Christian Friedrich Hölderlin macht, ein Leben

lang geteilt hätte.Doch ich muss mich mit dem Abschied geschlagen geben. 

Jeder Kampf ist zwecklos. Jeder weitere Kampf würde mir eine weitere 

Niederlage bringen und mich noch tiefer in die Verzweiflung führen.

Verluste, Abschiede, Einsamkeit. Damit muss ich eben klar kommen. Aber je

mehr ich versuche mich damit abzufinden, desto schneller verschlechtert sich

meine geistige Gesundheit. Ich bin schon lange nicht mehr ich.“