Von Anna Deichmann

Noahs rechte Hand, zu einer Faust geformt, umklammerte den stumpfen roten Buntstift fest, während er schrieb. Vier Buchstaben, genau dieselben vier, die auch die anderen Kinder an seinem Tisch aufmalten. Dann ließ er los, der Stift fiel auf die Tischplatte und Noah legte den Kopf schief. Irgendetwas stimmte nicht. Auch wenn er nicht genau verstand, wie die Erwachsenen aus den Zeichen, die er da hingekritzelt hatte, ein Wort machen konnten, wusste er, dass da etwas nicht stimmte.
Etwas unbeholfen rückte er seinen regenbogenbunten Holzstuhl zurück, stand auf und wackelte zu einer der beiden Erzieherinnen seiner Gruppe. Zu Anita, die immer viele kleine Haarspangen trug und so laut lachte, wenn eins der Kinder beim Gruppenfrühstück mit dem Essen kleckerte. Dann war sie immer die erste, die mit einem Lappen kam und dem Kind beim Saubermachen half.
Noah tippte sie an der Schulter an, weil sie gerade dabei war, mit Leonie ein Prinzessinnenbild auszumalen. Sie drehte sich um und lächelte breit.
„Oh Noah, was gibt es denn?“
„Ich mag … Papa schreiben. Wie geht das?“
Anita nahm ein leeres Blatt Papier vom Stapel und einen schwarzen Filzstift aus der Box daneben.
„Schau her, es geht ganz einfach“. Sie legte den rechten Arm um Noah und schrieb mit der linken Hand PAPA auf das Blatt. Dann ließ sie es Noah einmal versuchen und klopfte ihm stolz auf die Schulter, als er es in großen, lesbaren Buchstaben nachmachte.
Noah murmelte ein „Danke“, dann lief er eilig er zurück an seinen Platz und begann ein neues Bild.

„Finger weg von meinen Sachen, hab ich gesagt!“, donnerte Thomas, als er das Wohnzimmer betrat und seinen Sohn auf dem Boden sitzen sah, die Schlaufe seiner ledernen Umhängetasche um den Hals gelegt, „Wie oft muss ich denn noch sagen, dass das kein Spielzeug ist?? Verdammt nochmal, hör gefälligst auf mich!“
Unsensibel packte er das Kind unter den Armen und hob es aus der Schlaufe heraus, die nun einen großen Kreis auf dem Boden formte. Er brachte es die Treppe hinauf in sein Zimmer und ignorierte das Wimmern, das schnell zu einem Weinen und dann zu ohrenbetäubendem Schreien anschwoll.
„Ich bin nicht müde! Ich hab Hunger! Ich will noch spielen! Meine Dudus fehlen!“ Thomas musste an sich halten, um nicht noch lauter zurückzuschreien. Stattdessen presste er die Lippen aufeinander, zog sein Kind schnell und mit groben Griffen um. Dann legte er es in sein Bett, deckte es halbherzig zu und ignorierte das laute Weinen, als er zur Tür ging und das Licht ausschaltete.
Anstatt eines „Gute Nacht“, brummte Thomas: „Denk das nächste Mal nach, bevor du meine Sachen anfasst“. Dann schloss er die Tür und blendete die Rufe aus dem Kinderzimmer aus.
In der Küche stützte er sich an der Tischplatte ab und atmete mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Er öffnete sich eine Flasche Bier und ging ins Wohnzimmer, wo er seinen Laptop aus der Umhängetasche zog und sich dann mit beidem auf das Sofa sinken ließ.
Thomas musste sich auf die Unterlippe beißen, weil ihm die Tränen kamen, als er den Laptop anschaltete und den Sperrbildschirm wegklicken musste. Das Bild zeigte ihn mit Noah und dessen Mutter, Elina. Während Thomas über beide Wangen strahlte und seiner Freundin noch die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, schlief das Kind im Arm seines Vaters seelenruhig. Noah war an diesem Tag noch nicht größer als seine Elle gewesen.
Thomas hatte fest an ein langes, glückliches Leben mit Elina und Noah geglaubt. Aber wo stand er heute?
Seine Freundin – nicht nur das, sie waren bereits verlobt gewesen – hatte bald begonnen, früher zur Arbeit zu gehen. Dann hatte sie abendliche Sportkurse begonnen. Es hatte natürlich nicht lange gedauert, bis Thomas bewusst wurde, wohin Elina wirklich ging, und doch ignorierte er ihre immer weiter zunehmende Abwesenheit. Zum Teil wegen des Arbeitsstresses – aber vor allem, weil er hoffte, was er nicht anspräche, würde sich vielleicht einfach wieder in Luft auflösen. So wie die Kopfschmerztablette im Wasser, die er inzwischen nicht mehr nur einmal am Tag nahm.
Eines Morgens – es war jetzt etwas mehr als ein Jahr her – hatte Elina abends, als Thomas von der Arbeit kam, im Flur gestanden, in jeder Hand eine große Reisetasche. In Thomas Erinnerung hatten sie nicht einmal geredet, es gab ja nichts mehr klarzustellen. Vielleicht hatten sie es aber doch getan und er hatte danach nur zu viel Bier getrunken.
Elina hatte er seit diesem Abend nicht mehr gesehen. Manchmal schickte sie eine Nachricht, um sich nach dem Wohl ihres Kindes zu erkundigen, und er antwortete mit zwei oder drei Bildern und ein paar inhaltsschwachen Worten. Er wollte nicht, dass diese Frau am Leben des Kindes teilhatte, das sie ohne Wimpernzucken zurückgelassen hatte.
Er wollte auch keine Unterhaltszahlungen von ihr. Einmal hatte er sie deshalb angerufen, und nachdem sie schluchzend und halb schreiend mit ihrem Anwalt gedroht hatte, hatte Thomas aufgelegt und  entschieden, es gut sein zu lassen. Lieber schlug er sich alleine durch, als sich ein solches Theater mit seiner offensichtlich verrückt gewordenen Exfreundin und ihren Anwälten anzutun.

Und so saß er auch an diesem Samstagabend wieder auf dem Sofa und hatte noch Arbeit vor sich, die er am Vormittag nicht geschafft hatte. Thomas hatte seine Stunden verkürzen müssen, um Noah um ein Uhr aus dem Kindergarten abholen zu können, wofür er aber an den meisten Wochenenden auch ins Büro musste. Auch morgen würde er Noah um 8 Uhr in die Notbetreuung bringen und ihn dort am frühen Nachmittag wieder abholen.
Seufzend setzte er die Bierflasche an die Lippen und nahm ein paar lange Schlucke, bevor er endlich den Sperrbildschirm wegklickte und sich an die Arbeit machte.

„Papaaa, ich mag Nutella aufs Brot“.
„Nein, nicht am Morgen. Du kannst Käse haben“.
„Der schmeckt mir aber nicht“.
„Na dann isst du halt gar nichts!“ Thomas biss sich auf die Lippen, seine Stimme hatte sich schon wieder gehoben. Mit den Gedanken halb auf der Arbeit, war sein Geduldsfaden schon zu Beginn des Tages angerissen.
„Aber …“
„Kein Aber! Ahhh …“ Er raufte sich die Haare beim Blick auf die Uhr. Sie hätten schon vor 2 Minuten losgehen müssen, um rechtzeitig zur Betreuung zu kommen. Hastig stopfte Thomas einen Apfel, einen Schokoriegel und eine kleine Packung Vollkorncracker in Noahs Rucksack, bevor er seinen Sohn auf den Arm nahm, ihm seine einfachsten Schuhe an die Füße steckte und sie sich auf den Weg machten. Der Snack hätte eigentlich Thomas Frühstück sein sollen … egal. Hunger hatte er sowieso nicht.

Schon auf dem Weg zu seinem Büro zog Thomas den Aktenordner aus seiner Umhängetasche, um gleich keine Sekunde am Schreibtisch zu verlieren. Die Abgabefrist für den Finanzbericht des vergangenen Quartals hatte sein Chef schon zweimal verlängert – diese Woche war seine letzte Chance, und die war fast vorbei. Er wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, würde er noch eine Deadline verpassen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er seinen Kollegen aus dem Büro gegenüber nicht rechtzeitig kommen sah. Auch hätte er an einem Sonntag nie mit Gesellschaft gerechnet – normalerweise war er wochenends immer alleine. Thomas hatte keine Zeit mehr, zu reagieren, und als ihre Schultern versehentlich aneinanderstießen, flog sein Aktenordner in hohem Bogen durch die Luft, landete auf dem Boden und unzählige Blätter flogen wild durcheinander.
„Scheiße .. tut mir leid, ich …“, stammelte der Kollege und kniete sich sofort hin, um mit dem Aufsammeln der Blätter zu beginnen.
Thomas aber blickte auf das Chaos vor seinen Füßen und sah sein Leben sich darin spiegeln. In Gedanken gleichzeitig bei dem Bericht, der noch nicht einmal angefangen war, bei Noah, den er schon viel zu lange nicht mehr liebevoll in den Arm genommen hatte, bei der Arbeit, die sich auf seinem Schreibtisch zu Hause stapelte, bei den Rechnungen, die für diesen Monat noch offenstanden und bei all den Kopfschmerztabletten und Bierflaschen, für die er in den letzten Wochen lieber sein Geld ausgegeben hatte, kamen ihm die Tränen.
Er raufte sich die Haare, schüttelte dann den Kopf, atmete tief durch und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Vergeblich.
Also ging auch er in die Knie und hob Blatt für Blatt von dem grauen Teppichboden auf.
„Herr Kraus … ist alles in Ordnung?“, fragte sein Kollege und räusperte sich direkt verlegen.
Thomas bekam ein Blatt in die Hand, das nicht aus seinem Aktenordner stammen konnte. Es war ein dunkleres Papier als das seiner Unterlagen, eher cremeweiß. Darauf waren keine Zahlen und Prozente gedruckt, sondern mit rotem Buntstift unbeholfen Buchstaben gekritzelt. Bevor Thomas sich daran machte, diese zu entziffern, sprang ihm der außen rum gedruckte Rahmen ins Gesicht. „Kindergarten Nordwald – alles Liebe zum Muttertag“ stand da in großen Buchstaben als Überschrift für die große weiße Fläche innerhalb des Rahmens.
„Herr Krause … geht es ihnen gut?“
Thomas fiel es wie Schuppen von den Augen. Heute war der zweite Sonntag im Mai. Muttertag. Aber in kindlichen roten Buchstaben hatte Noah in den Rahmen geschrieben:
PAPA
Rund um die Schrift schmückten kantige Blumen und asymmetrische Herzen das Papier.
Thomas sah das Bild noch eine Sekunde an, dann konnte er das Schluchzen, das endlich seiner Kehle entwich, nicht mehr verhindern. Eine Träne rann über seine Wange, dann folgten immer mehr.

„Nein“, antwortete er erstickt und schüttelte den Kopf, „Ich … ich brauche dringend Hilfe“.

V2