Von Karolin Krause

Lina ist fünf und wächst als Tochter eines mehr oder weniger alleinerziehenden Elternteiles auf.

Eingeplant war sie nicht wirklich im Lebensentwurf ihrer Mutter. 

Als moderne, geschäftige Frau ist es Konzept ihrer selbst, den Fokus auf sich zu richten und stets mit der Zeit zu gehen. Lina ist bestens versorgt mit Lern und Spiele-Apps auf einem der neuesten Tablets, die der Markt zu bieten hat. 

Sandkastengespräche im Kreise von Müttern finden nur in kleinen Welten anderer statt, nicht aber in ihrer. So die Vorstellung der Mutter. Lina hingegen hat es sich oft gewünscht, ebenso wie andere Kinder, ein Sandeisverkaufsstand zu eröffnen. Sie hätte flink und korrekt die Preise berechnet und immer exakt die Wechselkieselsteinchen an ihre Kunden zurückgegeben. Eine mütterliche Investition, die sich an dieser Stelle ausgezahlt hätte. Die monatlichen Lohnauszahlungen des Teilzeitjobs konnten ihr ebenso wenig Erfüllung bringen wie das Mutterdasein. In ihrer Definition von Selbstverwirklichung kommt es für sie nicht in Frage hintenanzustehen. Und wer vorn stehen will, muss vorangehen. 

Lina lebt fortan bei ihrem Papa, der lebt lieber allein als mit seiner Exfrau. 

Denn mit ihr war er einsam. Allein fühlt er sich lebendig. Eine Entscheidung, die beide glücklich machte. Sie fiel mit den Herbstblättern, die Lina vom Boden aufsammelte. Ihr Vater nahm den Kinderhelm von der Parkbank, um ihn seiner Tochter zu reichen. Die Mutter nahm ihren mitgebrachten Aktenordner wieder unter den Arm. Ihre Mittagspause ist gleich zu Ende. 

Ihr stiller Streit war in Dokumenten abgeheftet. 

Mittlerweile ist Lina ein richtiger Teenager. Abnabeln braucht sie sich nicht mehr. Das wurde bereits erledigt. Sie redet nicht viel. Aber sie empfindet. Findet Schnelllebigkeit nicht nachhaltig. Das war mütterliche Wärme auch nicht. Schnell wird Lina älter, doch geht nicht mit der Zeit.  

Irgendwann ist sie neununddreißig und ihre Mutter in Rente. 

Deren Enkel heißt Max. Er fragt nicht nach der Oma. Er hat keine. Denn jene erinnert sich nicht. Nicht mehr. So wie sie ihren Enkel nicht kennt, kennt sie Lina nicht. Nicht mehr. Nichts hat sich verändert seit je her. Sie löst sich erneut von dem, was schwer lastet, in ihrem Regal in der Seniorenresidenz. Einen Ordner mit Dokumenten. Die letzten Wichtigen ihres Verbleibens vorn aufgeheftet. Es war stets nur ein Ordner für den Fall nach Vergangenem sehen zu müssen. 

 

Da fiel es.

Sie fiel. 

 

Für den Fall alles in der Cloud ginge verloren. 

 

Aus den hintersten Seiten fiel es heraus.

Sie fiel aus allen Wolken. 

 

Jemand war fünf und fertigte in ihrem Ordner ein Herbarium an.

 

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