Von Michael Voß

Auf ein gedehntes „Herein“ betrete ich nervös das Vorzimmer meines Chefs. Wie immer sitzt Tamara gelangweilt hinter ihrem Schreibtisch, wo sie sich je nach Tageszeit die Nägel macht, auf ihrem iphone herumtippt oder sich die Lippen nachzieht. 

„Dr. Scheuer wartet auf Sie, Lenny“, sagt sie und blättert eine Seite ihres Modemagazins um.

Tamara Gärtner ist Dr. Scheuers Assistentin und mein heimliche Sehnsucht. In meinen Tagträumen brenne ich mit ihr auf eine einsame Insel durch, wo wir uns im weichen Sand unter Kokospalmen lieben. In Wirklichkeit traue ich mich nicht einmal, sie anzusprechen: Einen übergewichtigen Nerd wie mich macht sie mit einem einzigen herablassenden Satz fertig.

 

Kaum sitze ich Dr. Scheuer gegenüber, ist meine Nervosität verschwunden. Scheuer ist der CEO der German Defence, kurz GD, einem erfolgreichen Rüstungsunternehmen. Er hat Durchsetzungsvermögen, ist entscheidungsstark und schätzt mich in meiner Funktion als IT-Experten.

„Was haben Sie für mich, Meier?“, fragt er.

„Normale Aktivität da draußen, sprich: Fünf abgewehrte Hackerangriffe in der letzten Woche.“

Dr. Scheuer nickt zufrieden und fragt dann: „Was ist mit Ihrem Projekt TTV?“

„Das Warten hat sich gelohnt. Die Chinesen haben den von mir ausgelegten Köder geschluckt. Sie haben den vermeintlich richtigen Weg zu den Konstruktionsunterlagen mit einer Brute-Force-Search überwunden und sich die manipulierten Unterlagen unserer Compositpanzerung gezogen. Die glauben jetzt, dass sie sich eines unserer wertvollsten Geheimnisse gedownloadet haben.“

Dr. Scheuer strahlt: „Hervorragend, Meier! Diese Trottel werden ihren neuen Kampfpanzer damit bauen und testen. Bis sie merken, dass die Panzerung nichts taugt, haben sie Jahre ihrer Entwicklungskapazitäten verbrannt!“

Ich versuche, mir meinen Stolz nicht anmerken zu lassen und sage: „Leider habe ich auch eine unerfreuliche Entdeckung gemacht.“

„Aber doch nichts, was sie nicht im Griff haben, oder?“

„Leider handelt es sich um etwas außerhalb meiner Einflussmöglichkeiten.“

Ich zeige ihm ein Video, auf dem Tamara sich mit einem dicklichen Mann in einem Hotelzimmer vergnügt. (Zumindest vergnügt sich der Mann, Tamara wirkt eher distanziert.)

Dr. Scheuer runzelt die Stirn. Ich zeige ihm weitere, ähnliche Videos mit Tamara in einer der Hauptrollen. Dabei sehe ich selbst nicht hin – diese Videos steigern meine Sehnsucht nach ihr bis zur Schmerzgrenze.

Bedächtig wiegt Dr. Scheuer seinen Kopf.

„Woher stammt das Material?“

„Von Frau Gärtners Laptop.“

„Was haben Sie auf Frau Gärtners Computer zu suchen, Meier?“

Tja, was ein verliebter Träumer halt so sucht: Fotos und Videos seiner Angebeteten, wie sie wohnt, welche Dessous sie shoppt …

„Auf Ihre Anweisung, Herr Dr. Scheuer, unterziehe ich regelmäßig alle PC´s des Unternehmens einem Sicherheitscheck.“

„Ach ja. Hm, aber waren die Daten denn nicht verschlüsselt?“

„Schon. Aber so etwas ist kein Problem für mich“, sage ich lässig. 

Dr. Scheuer muss plötzlich husten. 

Dann räuspert er sich: „Nun, ich werde Frau Gärtner wohl abmahnen müssen, da Sie die Regeln verletzt hat: Keine privaten Daten auf Firmen-Geräten. Ansonsten geht die GD das Intimleben der Mitarbeiter nichts an.“

„Naja, Herr Dr. Scheuer: Ich denke, dass es das Unternehmen in diesem Fall sehr viel angeht. Die Herren auf den Videos sind hochrangige Politiker sowie Mitarbeiter des BAFA, also des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle.“

„Ja und? Durch das Kriegswaffenkontrollgesetz haben wir regelmäßig Kontakt mit diversen Bundestags-Abgeordneten sowie den zuständigen Herren beim BAFA. Da kann sich das schon Mal ergeben.“

„Sicher. Aber ich kann belegen, dass unser Vertrieb diese Männer mit den Videos erpresst hat, um Waffenverkäufe außerhalb der Nato genehmigt zu bekommen. Wenn das rauskommt, haben wir die Staatsanwaltschaft im Haus und können wir den Laden für eine Weile dichtmachen.“

Auf Dr. Scheuers Stirn erscheinen kleine Schweißperlen.

„Das darf doch nicht wahr sein! Unser eigener Vertrieb? Ich nehme an, sie haben auch diese Information bei Ihren Routinekontrollen gefunden, Meier?“

Ich nicke.

„Und Sie sind sich ganz sicher, dass die, hrm, Opfer wirklich beim BAFA arbeiten bzw. im Bundestag sitzen?“

„Ganz sicher. Die Abgeordneten sind ja allseits bekannt. Was die Beamten angeht, so habe ich mich in das System der BAFA gehackt und mir stichprobenartig die Personalakten der Herren angeschaut.“

Jetzt wirkt Dr. Scheuer echt gestresst.

„In Ordnung, Meier: Bringen Sie mir einen vollständigen Bericht, dann werde ich mich der Sache annehmen.“

 

Erleichtert, dass Dr. Scheuer den Laden wieder in Ordnung bringen wird, verlasse ich das Büro.

„Ciao, Tamara“, sage ich beim Durchqueren des Vorzimmers.

„Bye, Lenny.“

Wie immer bin ich ihr nicht einen einzigen Blick wert. Doch der Klang ihrer Stimme! Obendrein hat sie mich mit meinen Namen angesprochen! Es macht mich fast verrückt.

 

In meiner IT-Kommandozentrale im dritten Untergeschoß beginne ich mit dem Bericht. Bei der Hintergrundrecherche finde ich eine Auffälligkeit: Im Zuständigkeitsbereich für Kriegswaffen sind in den letzten zwölf Monaten vier Beamte des BAFA an Herzversagen gestorben. 

Jetzt will ich es wissen. Ich durchsuche das Intra-, das Inter- und das Darknet, hacke mich in Computer diverser Geldinstitute, vergleiche Daten. Als ich fertig bin, bin ich, nun ja, ziemlich fertig. 

Denn die Toten haben dreierlei gemeinsam:

  • Sie standen der Genehmigung von Exporten der GD im Weg.
  • Die Ursache ihres Herzversagens ist mit „stressbedingt“ angegeben. 
  • An ihrem Todestag hatten sie ein Date mit Tamara.

 

Von diesen Dates gibt es keine Videos, aber Einträge in den privaten Google-Kalendern der Männer. Tamara hatte die Treffen zwar von ihrem eigenen Kalender gelöscht, aber ich konnte die Daten wieder herstellen. In allen vier Fällen stellte derselbe Arzt den Totenschein aus. Jener Arzt, auf dessen Konto jedes Mal danach eine fünfstellige Summe einging. Das Geld wurde überwiesen von einem Konto der GD, die diesen Arzt des Öfteren in Sachen ergonomischer Gestaltung von Infanteriewaffen zu Rate zieht. 

 

Es ist 4 Uhr morgens. Ich schließe den Bericht ab und speichere ihn auf einem mit Dr. Scheuers Passwort geschützten USB-Stick. Dann nehme ich den Aufzug nach oben und lege den Stick auf den Schreibtisch meines Chefs.

Auf dem Rückweg bleibe ich im Vorzimmer stehen. Paradoxerweise hat die Tatsache, dass Tamara ein waschechtes Bad Girl ist, mein Verlangen nach ihr noch mehr angeheizt. Wie gern hätte ich etwas, was sie mit ihrem Fingern berührt hat. Oder gar mit ihren Lippen! Vielleicht hat sie einen Labello in ihrem Schreibtisch? Ich ziehe eine der Schubladen auf. Statt des erträumten Lippenpflegestiftes finde ich Spritzen, Kanülen und je eine Flasche Kaliumchloridlösung und K.O.-Tropfen. 

Jetzt weiß ich, wie Tamara ihre Opfer um die Ecke bringt: Beim Stelldichein mogelt sie dem Mann K.O.-Tropfen ins Sektglas. Wenn der Kerl dann nichts mehr mitkriegt, bekommt er die Spritze, die das Herzversagen bewirkt. Der Gedanke, wie die leichtbekleidete Tamara einen Liebhaber ins Jenseits schickt, löst hocherotische Vorstellungen in mir aus. Normal ist das nicht, denke ich. Aber wer ist schon normal?

In der zweiten Schublade finde ich meine Personalakte. Was macht die denn hier? Neugierig schlage ich den Deckel auf. 

 

Auf dem ersten Blatt klebt ein Post-It. Darauf prangt Dr. Scheuers Handschrift: „L. Meier eliminieren, asap.“

 

Mein Entsetzen hält keine zwei Herzschläge lang. Noch bevor es dämmert, habe ich mir im Darknet einen Pass und andere Dokumente für meine neue Identität bestellt. Das millionenschwere Firmenkonto der GD werde ich später online ausplündern, wenn ich glücklich in Costa Rica untergetaucht bin. 

 

Beinahe euphorisch lenke ich meine Schritte in die Abteilung für Chemiewaffen, wo ich die K.O.-Tropfen und das Kaliumchlorid aus Tamaras Schublade gegen eine harmlose Kochsalzlösung austausche. 

 

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