Von Bernd Kleber

Da saß er nun im Schneidersitz auf dem Fußboden des Korridors. Die Hände mit Schuhcreme beschmiert, blätterte er in dem Ordner, der ihn aus der untersten Schuhregal-Reihe angeknurrt hatte. Warum befand sich dieses Büroungetüm im Schuhschrank?

Nur seine Mutter konnte ihn dort hineingeschoben haben. Oder?

Warum?

Viel verstand er nicht. Bis er zu einem Blatt kam, das eine große Überschrift trug. Er las sie ganz langsam. Blätterte weiter und entdeckte seinen Namen.

Der Junge rieb sich das Kinn, dann kratzte er seine Stirn. Die Lippen fest zusammengepresst. Was bedeutete das? Wussten die Nachbarn, die Lehrer, die Mitschüler auch von diesem Blatt? Ihm lief eine heiße Welle vom Nacken durch den ganzen Körper. Die Ohren glühten jetzt.

Er blätterte weiter.

Viele Worte begriff er nicht, wie eine Fremdsprache. Der Junge schlug den Aktenordner zu und atmete heftig. Musste er Beatrice und Angelika mit anderen Augen ansehen?

Zwei Mädchen betraten den Korridor. Schnell schob er den Geheimnisbehälter wieder in das Fach für Schuhe.

„Bist Du fertig? Hast Du meine Schuhe auch geputzt?“, fragte die eine. Die andere schaute ihn mit großen Augen an. Sie umarmte ihn.

„Du bist aber fleißig!“, juchzte sie in sein Ohr.

Der Junge hielt seine jüngste Schwester fest und beschloss, dass es egal sei, was er eben gelesen hatte. 

Er lächelte breit, Harmonie mit seinen Schwestern, seiner Familie. Geborgenheit und vertrauter Duft.

Er erhob sich und kitzelte beide Schwestern. Sie lachten und alberten. Warfen Schuhe aus dem Schrank durch den Korridor.

Als das Schloss der Wohnungstür knackte, sprangen sie durch den Raum und räumten auf.

„Na meine Großen, wart ihr auch artig?“, begrüßte sie ihre Mutter und verteilte Feierabend-Küsschen, die wie Bonbonpapier knisterten und süß schmeckten. Dann verschwand sie in die Küche.

Am Abendbrottisch beobachtete er seine Schwestern, seine Mutter. Er kannte die Bewegung der Kleinen genau, wenn sie ihre vielen widerspenstigen Locken immer wieder hinters Ohr schob beim Essen. Er schmunzelte über das Sortieren der einzelnen Bestandteile der Mahlzeit durch die zweite Schwester. Sie baute wieder einen Soßenkanal im Kartoffelbrei. Er genoss den lächelnden Gesichtsausdruck seiner Mutter, wenn sie von einem zum anderen blickte.

Papa konnte er nach dem Hefter nicht fragen, der war auf Montage, was weit weg bedeutete. Würde er seine Mutter später ansprechen? Mutti, was ist das für ein Blatt im Aktenordner? Nein, er würde sie nicht beunruhigen. Vielleicht hat ja doch nicht sie den Ordner dort versteckt? Könnte ja sein, nur sein Vater wusste davon?

Er würde in den Ferien Opa fragen! Breit grinste er bei dem Gedanken und hieb sich auf den Schenkel. Alle drei am Tisch sahen ihn an. Er zuckte mit den Schultern und grinste.

Von seinem Teller schob er eine Frikadelle auf den Teller der Jüngsten, die mochte sie so sehr. Muttis Bouletten! „Hier kleine Beatrice, damit Du groß und stark wirst!“ Alle lachten.

Und er murmelte im Kopf immer wieder diese Überschrift, sie nicht zu vergessen:

„Urkunde über die Annahme an Kindes statt“.

V2/3054