Von Bernadette Bosse

Der Tag war lang gewesen, die Sonne längst untergegangen.

Ich starrte nur noch Löcher in die großen, dunklen Fenster der Stadtbibliothek, ohne zu sehen, was draußen vor sich ging. Mein verzerrtes Spiegelbild sah müde aus, die langen blonden Haare zerzaust, das Make-Up verwischt.

Meine Konzentration war, wie mein Kaffee, dahin.

Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Ich gehörte zu der aussterbenden Sorte Studentinnen, die lieber in Büchern lasen und auf Papier schrieben, als am Notebook oder Tablet herumzutippen. Der Geruch von gebundenen Seiten war beruhigend, das Schreiben mit meiner alten Tintenfüllfeder aus der Schulzeit auf ein weißes Blatt Papier ungemein befriedigend.

Ich blickte mich um.

Die Bibliothek leerte sich bereits, nur ein paar der üblichen Gesichter waren noch vertreten.

Eine ältere Dame, die am laufenden Band Bücher entlehnte, um sie in der Ruhe des großen, modernen Gebäudes zu lesen. Der ältere Herr, der das gleiche mit Zeitungen tat und dabei die Stille mit gelegentlichem Seitenrascheln durchbrach. Und natürlich die Bibliothekarin, eine junge Studentin, die stets, offensichtlich gelangweilt von ihrem Job, auf ihrem Handy herumspielte.

Sie hätte ja auch lernen können.

Ich verließ den Tisch, an dem ich für meine Diplomarbeit in Geschichte recherchiert hatte, für einen raschen Besuch der Toilette. Danach räumte ich auf, packte meine Bücher und Ordner zusammen und machte mich auf den Heimweg.

 

Der Umweg zum Dönerstand meines Vertrauens hinter der Stadtbibliothek hatte sich wie immer gelohnt. Ich trug mein Falafeldürüm mit Salat und „viel Scharf“ in meiner Handtasche nach Hause wie einen geheimen Schatz und machte mich dort darüber her.

Meine Ein-Zimmer-Studentenwohnung war preiswert und verkehrsgünstig gelegen, so nahm ich die gelegentliche kalte Dusche, wenn wie so oft das Warmwasser ausfiel, gerne in Kauf.

Heute hatte ich kein akutes Bedürfnis auf dieses eiskalte Vergnügen, stattdessen schlug ich nochmal meinen Aktenordner auf, um die Recherchearbeit des Tages durchzulesen, während ich auf einem Falafel herumkaute.

Die erste Seite war okay, in der zweiten hatte ich mich in Details verloren und vergeblich versucht, mit Pfeilen etwas Ordnung in die Sache zu bringen. Die dritte Seite…

Was war das denn?

Ein loses Blatt Papier, nicht aus dem Schreibblock, den ich benutzte, sondern strahlend weißes Druckerpapier, hatte sich in meine Unterlagen geschummelt, mit nur einem Satz in schwarzen Blockbuchstaben beschrieben.

Mir war plötzlich kälter als in meiner Kaltwasserdusche.

„Ich sehe dich, du bist so schön.“

 

Nervös sah ich mich um. Immer wieder.

Seit Monaten fühlte ich mich in der Bibliothek eigentlich wohl, wenn nicht sogar geborgen. Sie war meine zweite Heimat in der mir noch fremden Stadt geworden, so viel Zeit verbrachte ich hier. Im Sommer war es erfrischend kühl, im Winter angenehm warm. Man war nie einsam, aber entkam dem sozialen Zwang, sich mit seinen Mitmenschen zu unterhalten.

Heute war ich nach der unheimlichen Botschaft in meinem Ordner verunsichert und versuchte herauszufinden, wer diese hinterlegt haben könnte. Die ältere Dame war wieder da, unter meinem prüfenden Blick sah sie kurz auf und lächelte mechanisch. Nein, die Oma war das wohl nicht gewesen. Herr Zeitungsraschler war heute, zumindest noch, nicht hier. Zwei  Studenten steckten ihre Nasen in ein großes, grünes Anatomiebuch. Die beiden waren mir noch nie aufgefallen, wirkten aber harmlos. Oder lasen sie das Buch etwa um herauszufinden, wie man am besten Leichen zerlegte?

Ich schüttelte den Kopf über meine Paranoia. Typisch Landei in der großen Stadt.

Wahrscheinlich hatte sich jemand nur einen Scherz erlaubt.

Ein letzter Blick durch den Raum.

Die Bibliothekarin kaute Kaugummi und starrte auf ihr Handy. Die wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, dass ich existierte.

Seufzend versuchte ich mich auf das Buch vor mir zu konzentrieren und begann, Notizen zu machen.

 

Langsam ging der Herbst in den Winter über.

Auf dem Heimweg hatte ich gefroren, meine Jacke würde bald dem Wintermantel weichen müssen Es war zu kalt für einen Besuch beim Dönerstand gewesen, also bestellte ich stattdessen Essen online.

Sushi.

Während die Website die Zeit bis zur Lieferung hinunterzählte – noch 15 Minuten – ging ich meine heutigen Notizen durch. Sie verrieten meine Nervosität: Ein paar Anmerkungen am Rande waren -bezugslos und ein kleines WER in Blockbuchstaben hing hilflos zwischen zwei Absätzen.

Noch 10 Minuten.

Mein Herz setzte abrupt aus.

Ich starrte fassungslos in den Aktenordner.

Da lag ein weiteres, druckerpapierenes Blatt zwischen meinen Notizblockseiten.

Die gleiche schwarze Schrift formte wieder einen einzigen Satz.

Noch 5 Minuten. Es klingelte plötzlich.

Erschrocken fuhr ich hoch,  Ordner und Inhalt verteilten sich auf Couch und Laminat, einige der Blätter wiegten sich passend zum Herbst langsam zu Boden. Zitternd stand ich im Raum und überlegte, was ich tun sollte.

Es klingelte nochmals.

Verängstigt ging ich zur Gegensprechanlage „Ja?!“

„Miyama Sushi!“

Noch 3 Minuten.

Ja, gelegentlich war der Lieferant schneller als sein Countdown. Heute auch? Meine Gedanken überschlugen sich.

„Hallo?“ die blecherne Stimme riss mich aus meiner Erstarrung.

Ich drückte kurzentschlossen auf den Knopf um die Haustüre zu öffnen, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

1 Minute.

Der Spion offenbarte ein vollständiges Bild des Wohnhausganges, seine schwarz-weißen Fliesen und hohen Räume durch die Linsen seltsam verzerrt.Schließlich erschien ein durchaus asiatisch aussehender, kleiner Mann im dritten Stock, in seiner Hand eines der üblichen weißen Plastiksackerln, die Lieferdienste gerne benutzten.

Ich öffnete die Wohnungstüre gerade soweit, dass das bestellte Sushi durchgequetscht werden konnte, bereit sie jederzeit zuzuschlagen und streckte dem Lieferanten ein paar kleine Scheine Bargeld verzweifelt entgegen. „Passt schon!“ Hatte ich überhaupt Trinkgeld gegeben? Ich schlug die Türe zu und sperrte sofort ab.

Der arme Mann war sicherlich verwundert. Oder erlebte er öfter derart verstörte, alleinlebende Frauen? Seine Schritte verklangen harmlos im Stiegenhaus, als er sich auf den Weg aus dem Gebäude machte.

Mein Herz raste immer noch.

Das Sushi fest an mich gepresst ging ich langsam zurück ins Wohnzimmer.

0 Minuten, dein Essen ist bei dir!

Erleichterung setzte ein, ich sank zitternd zu Boden.

Genau vor mir lag das fremde Blatt Papier mit der ominösen Botschaft.

„Ich sehe dich, der rote Pullover steht dir so gut.“

 

Die Bibliothekarin knallte das Handy auf den Tisch vor ihr. Ihr Blick war genervt.

„Nein, ich habe niemanden bemerkt, der an deinen Sachen war!“

Zugegeben, ich war insistierend gewesen, aber einen dermaßen unhöflichen Tonfall hatte ich nicht verdient. „Bist du sicher? Zweimal ist es schon passiert.“

„Ja,“ schnaubte sie, genervt von meinem wiederholten Nachhaken, „ganz sicher. Nimm halt dein Zeug mit, wenn du nicht willst, dass dir einer was klaut wenn du am Klo bist!“

Sie nahm das Handy wieder auf.

„Nein, nein – es wurde etwas dazugelegt, nicht gestohlen!“

Nun starrte sie mich an, als wäre ich geisteskrank. War ich das vielleicht?

„Ich habe nichts bemerkt,“ wiederholte sie langsam und richtete ihre Aufmerksamkeit demonstrativ auf das kleine Display vor ihr.

Als ich nach ein paar Augenblicken immer noch vor ihr stand, sah sie ergeben wieder zu mir hoch und seufzte. „Schau, ich kann dir nicht helfen. Geh zur Polizei, wenn du dir Sorgen machst.“

Ich nickte nur und ging.

Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durch die Bibliothek schweifen. Die vertrauten Räume und ihre gemeinschaftliche Stille würden mir sehr fehlen, doch beim besten Willen wollte ich hier keine weitere Zeit mehr verbringen. Die ältere Dame sah uns über den Rand ihres Buches für den Lärm unserer Unterhaltung strafend an, ebenso hatte Herr Zeitungsraschler die Stirn in unwillige Falten gelegt, als er versuchte, sich über unser Gespräch hinweg zu konzentrieren.

Kurz ließ ich mich an meinem üblichen Platz nieder-. Waren diese beiden Botschaften wirklich Grund genug, zur Polizei zu gehen? Vielleicht spielte hier jemand nur ganz üble Streiche? Würde man mich auslachen? Ich  dachte an die vielen Nachrichtenmeldungen über Frauenmorde in der letzten Zeit, welche mir, so furchtbar sie auch waren, ganze Welten entfernt vorgekommen waren.

Die nächste Polizeistation war nicht weit.

Entschlossen stand ich auf.

 

Wie aus dem Nichts stand plötzlich jemand auf dem Gehsteig vor mir und versperrte mir den Weg.

Ich sah auf, er war groß und kam mir vage bekannt vor. Woher?

Seine Zähne waren weiß im Dunkel des frühwinterlichen Abends.

„Ich sehe dich.“

Ich schrie.

 

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