Von Cristina Feuchtmüller de Ramirez

Die Nervosität im Raum war deutlich spürbar. Mit ihren Kollegen hatte sie sich im Besprechungszimmer eingefunden. Angespannt hatte sie sich an die Fensterfront gelehnt, die Hände zu Fäusten geballt. Heute war die Ziehung. Ihr Vorgesetzter wühlte in der großen Plastikschüssel und zog für jeden seiner sechs Mitarbeiter vier der bunt durchgemischten Zettelchen. Nur so hatten sie sich untereinander auf eine gerechte Verteilung der Arbeitslast einigen können. „Wer will anfangen?“, fragte er heiter. „Ladies first“, rief jemand. Sie war die einzige Frau. Also gut. Mutig trat sie neben die Plastikschüssel und lächelte. „Martha, Sie übernehmen A, E, M und R!“, verkündigte der Chef des Ausländeramtes feierlich, als hätte sie gerade den Hauptgewinn gezogen. Und das hatte sie auch. Ein riesiger Batzen Arbeit würde in den nächsten Wochen auf sie zukommen. Ihre Kollegen atmeten erleichtert auf. Nicht wegen E und R. Nein, das war ja auch schnell erledigt. Alle hatten sich vor A, aber vor allem vor M gefürchtet. Die  Nervosität war nun wie weggeblasen, denn sie hatte das schwere Kreuz ja auf sich genommen und würde auf unabsehbare Zeit damit beschäftigt sein, die Akten aller Mahmuts, Machmuds, Mahmouds, Mehmets, Mohammeds, Muhammeds, Mohammads und Mohamuds, Maajids, Mahirs, Marwans, Massuds, Memduhs, Maliks, Mersads und Mersids, Moads, Mouads, Mourads, Murats, Murrads und Moezs, Mostafas, Mustafas, Mubareks, Muhadins, Munirs, Mumayyaz, Musads und Musharafs aus den Kellerarchiven in ihr kleines Büro zu schleppen, alphabetisch zu ordnen und zu erfassen. Als Mohammed in all seinen Schreibvarianten in mehrere große Stapel neben ihrem Computer sortiert war, kam der Chef zum Nachsehen vorbei und mit ihm ein Luftzug der erfrischenden Sorte. „Hier sieht es ja aus, wie Bombe“, war sein Kommentar, als die verschiedenen Mohammeds erschrocken aufgeflattert und sacht schwebend zu Boden geglitten waren. Leise knurrend verwünschte Martha ihren Chef nach Island zu allen Gudmundurdottirs und Ragnheidursons, sammelte die Mohammeds vom Boden auf, brachte Stunden damit zu, ihnen erneut die Reihenfolge zu geben, die ihnen gebührte und beschwerte jeden Stapel wohlweislich mit Gartengranit. Mittlerweile musste sie das Alphabet nicht mehr vor sich hinmurmeln, sie konnte sofort sagen, welcher Buchstabe nach und vor O, L oder U stand. Sie konnte es sogar fehlerfrei rückwärts aufsagen. Am Iksypsilonsten Tag nach ihrer Einberufung zur A-R-M-Ee, irgendwo zwischen Abdallah, Abdeladim und Abdelouahab, hielt sie plötzlich ein Blatt in der Hand, das sie stutzig machte. Ein Zettel, der in die Akte gerutscht sein musste. Sie drehte es in ihren Händen und erkannte ein Mim, das arabische M, dann das Alif, den ersten Buchstaben des arabischen Alphabets. Ma-? Sie googelte die restlichen Buchstaben und erkannte, dass jemand ihren Namen – Martha – in einem kunstvollen Schriftzug gestaltet hatte. Wie dieses Blatt in die Unterlagen gekommen war, konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären. Keiner ihrer Kollegen sprach Arabisch. Aber das war auch gar nicht wichtig. Sie hielt das Blatt in ihren Händen und Tränen strömten über ihr Gesicht. Jemand hatte sie gesehen, an sie gedacht, sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, ihren Namen, der ihr soviel bedeutete, wunderschön darzustellen. Aus diesem Blatt kam ihr so viel Wertschätzung entgegen. Für jemanden war sie jemand. So wie Mohammed, Mohammad und Muhammed wichtig waren. Jeder Einzelne von ihnen, egal in welcher Schreibweise, war wichtig, verdiente Respekt und Anerkennung. Jeder von ihnen verdiente es, gesehen und gehört zu werden. Jede einzelne Akte repräsentierte einen Vater, einen Bruder, einen Sohn, einen Enkel, Neffen oder Ehemann. Einen Menschen. Wichtig, geliebt und wertgeschätzt.