Von Raina Bodyk

18.05.2021

Ich stand am frisch ausgehobenen Grab, beobachtete, wie der Sarg mit meinem Großvater an dicken Seilen langsam und geräuschlos in der Grube versank. Auf einer Kranzschleife in aufdringlich schwarzen Buchstaben Requiescat in Pace.

‚Hast du jemals diesen Frieden gefunden, Opa? Mochtest du es, Menschen zu quälen? Oder war es dir nur egal?
Wie konntest du leben mit dieser Schuld? Lachen, deinen Enkel zärtlich lieben, mit Tränen der Rührung Geschenke auspacken, deinen Job machen, als wäre nichts geschehen?‘

Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, meine Eltern hatten einen tödlichen Unfall, als ich drei Jahre alt war. Mir hat es dennoch an nichts gefehlt, fühlte mich immer geliebt und geborgen.

Hätte ich nur nie diesen Ordner angefasst, um Opas Dokumente zu sichten. Ein vergilbtes, leeres Kuvert fiel heraus. Eigentlich nichts Besonderes, wäre da nicht diese Adresse gewesen …

Fragend hielt ich meiner Oma den Fund hin. Seltsamerweise schien sie nicht überrascht, eher tief erschreckt, um nicht zu sagen, verängstigt. Als hätte sie ein Gespenst gesehen. Aber erklären wollte sie nichts, es gab nur  Vertröstungen auf später. Bis dahin hatte ich mir nicht viel dabei gedacht, aber diese Reaktion verstand ich nicht. Sie machte mich neugierig und argwöhnisch. Gab es ein Familiengeheimnis? Wieso war Opa im Krieg in Dachau? War er ein Opfer der Nazis?

Hartnäckig bohrte ich immer wieder nach. Ohne Erfolg. Als ich so gar keine Ruhe gab, drückte sie mir endlich ein eng beschriebenes Heft in die Hand. „Dann lies, wenn du unbedingt in der Vergangenheit herumwühlen musst. Du wirst es bereuen! Für mich ist das Thema hiermit beendet. Ich kann und werde nichts dazu sagen.“ Schluchzend sank sie wie zerbrochen auf den nächsten Stuhl.

 

  1. April 1937

Heute bin ich 12 geworden. Zur Feier des Tages haben sich alle Pimpfe fein herausgeputzt und die Fahne gehisst. Nicht wegen mir natürlich. Ich habe nur am gleichen Tag Geburtstag wie der Führer. Der ist mein ganz großes Vorbild. Ich möchte unbedingt so werden wie er. Er hat unser Volk wieder stark gemacht und ihm seine Ehre zurückgegeben, die unsere Feinde gestohlen hatten. Mit denen wird er kurzen Prozess machen! Schließlich sind wir ihnen haushoch überlegen, allein schon durch unser reines Blut.

 

  1. Januar1938

,Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!‘ (1) Ja!
Heute durften wir endlich mit echten Karabinern schießen. Von zehn Schuss habe ich siebenmal die Scheibe getroffen. Nicht schlecht! Beim nächsten Mal geht‘s immer ins Schwarze!

                                                                                                                                      

  1. Juni 1939

Der neue Hordenführer hat heute gesagt, dass ich mit meiner Kampfbereitschaft und meiner Durchsetzungsfähigkeit  einmal eine große Zukunft in der Armee haben werde. Aber der Führer verlange auch einen Beweis für meinen unbedingten Gehorsam und Mut, für die Treue bis in den Tod. Ich müsse auch psychisch hart sein. Kein Problem! Doch dann hat dieser Kerl grinsend befohlen, ich solle meinen geliebten Schäferhund Dolf, den ich aufgezogen habe, der mir aufs Wort gehorcht und manchmal heimlich in meinem Bett schläft, töten, ihm mit meinen eigenen Händen das Genick brechen. Nein! Das konnte ich nicht!
Doch unser Führer hat befohlen. Ein Soldat darf nicht zögern, muss bereit sein, sein Leben für sein Volk zu opfern. Ich schäme mich dafür, aber ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Mit geschlossenen Augen verdrehte ich dem Tier mit einem lauten Knacken den Kopf. Es tut mir leid, Dolf!

 

  1. März 1941

Heute haben wir einen Ausflug zum KZ Flossenbürg gemacht. Der Betrieb ist riesig. Hier sind arbeitsscheues Gesindel, kommunistische Hetzer und jüdische Untermenschen interniert. Es war sehr befriedigend, diese Volksschädlinge im Steinbruch schuften zu sehen. Die Gegend ist idyllisch, eigentlich viel zu gut für diese Leute. Sie ernten ihr eigenes Obst und Gemüse, haben einen Gefangenenchor, die Kinder spielen auf den blühenden Wiesen. Da geht es manchem Volksgenossen schlechter.

 

  1. Januar 1944

Bin nach Dachau versetzt. Endlich weg von der Front! Auch wenn es mich mein linkes Bein gekostet hat. Hier gibt es wenigstens anständig zu essen. Wegen meiner Behinderung hat man mich in die medizinische Forschungsabteilung gesteckt. Hier assistiere ich den Ärzten, die nach neuen Medikamenten und Behandlungsmethoden suchen. Ziel ist es, die Volksgesundheit zu steigern. Schließlich sind wir verpflichtet, unser arisches Erbgut und dessen Leistungsfähigkeit zu sichern.

Ich helfe bei den Leberpunktionen, injiziere den Häftlingen Eiter für Untersuchungen von Entzündungen. Besonders wichtig ist den Doktoren die Malariaforschung wegen der Ansteckungsgefahr für unsere Soldaten in den russischen Sümpfen. Ich muss die Versuchspersonen mit Malariamücken infizieren. Manchmal darf ich auch bei Operationen assistieren, wenn Probanden Organe entnommen werden, um zu testen, was deren Fehlen bewirkt
Es ist ein ruhiges Arbeiten, bei dem ich meist sitzen kann. Schlimmer sind die Kältetodversuche und Meerwasserexperimente. An das Schreien der Betroffenen gewöhnt man sich nur schwer. Aber Sentimentalität ist hier fehl am Platz. Es geht um das Wohl unserer verletzten Helden an der Front.

 

  1. Februar 1945

Jetzt können uns nur noch die versprochenen Wunderwaffen helfen. Überall sind die Feinde auf dem Vormarsch.  Im Osten sind Hunderttausende auf der Flucht vor den Russen. Ich bleibe dennoch zuversichtlich und vertraue auf den Führer.

 

01.März 1945

Die Front rückt näher. Wir haben Auftrag, das Konzentrationslager zu räumen und die Gefangenen in andere Lager zu schicken, damit sie nicht in die Hände der Gegner fallen.
Überall gibt es jetzt Standgerichte gegen Deserteure und Wehrkraftzersetzer. Diese Judasse gefährden die Kampfkraft und die Moral. Der Verrat Abertausender von angstschlotternden, hasenfüßigen Soldaten ist niederträchtig.

 Wir vernichten zur Zeit alle Unterlagen über unsere Versuchsreihen, ebenso alle Proben und Materialien. Der Feind wird sich nicht mit unseren Erfolgen brüsten können. Die Ärzte kümmern sich um die Versuchspersonen.

 

09.05.2021

„Oma, das ist nicht wahr, oder? Sag, dass das nicht wahr ist! Mein Großvater – ein Naziverbrecher?“
Ich merkte selbst, wie flehend meine Stimme klingt. Das durfte einfach nicht sein! Er war kein Häftling. Er hat in Dachau ‚gearbeitet‘. In diesem Kuvert hat vielleicht ein Brief voll Sehnsucht  und Liebe von Oma gesteckt. Mir wurde übel.

„Komm schon, Junge. Das ist alles so lange her. Es waren andere Zeiten damals. Wir wollten dich nicht damit belasten.“

Hörte ich richtig?
„Es geht doch nicht ums ‚Belasten‘! Du redest von meinem Opa, deinem Mann! Er hat nicht nur getötet, er hat Menschen gefoltert.“

„Er tat das doch nicht freiwillig. Er musste tun, was man befohlen hat, sonst wäre er selbst  getötet worden. Wem hätte das geholfen?“

Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders: Ich packte sie bei den Schultern, schüttelte sie so heftig, dass sie weinte.

„Sechs Millionen Menschen wurden in den KZs ermordet! Und was habt ihr getan? Lebtet euer kleines, gemütliches Leben und hattet nicht mal ein schlechtes Gewissen?“

„Was weißt du denn schon?! Da gab es keine Freiheit, ‚nein‘ zu sagen. Außerdem wurden die Haupttäter in den Nürnberger Prozessen verurteilt und gehängt.
Wir hatten ganz andere Sorgen. Hunderttausende sind im Hungerwinter 1946/47 gestorben. Nach dem heißen Sommer war die Ernte erbärmlich, die Wohnungen waren zerstört, Felder verwüstet. Wenn wir nicht erfrieren wollten, mussten wir von den Eisenbahnwaggons Kohlen klauen. Uns hat auch niemand geholfen. Wir haben Abfall gegessen, gebettelt, gestohlen, um zu überleben. Dazu kamen Vertriebene und Flüchtlinge zu Millionen, wollten, dass wir das Wenige, das wir besaßen, auch noch teilten.“

„Aber das ist doch keine Entschuldigung!“

Mein Magen rebellierte. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Doch nicht meine Familie! Ich hörte ihre Stimme gedämpft wie durch einen zähen Nebel, leise, anklagend.

„Glaubst du, die anderen waren besser? Ständig hörten wir Gerüchte über die Greueltaten der Russen. Wir Frauen hatten wahnsinnige Angst. Geschlagen haben sie uns und Schlimmeres. Geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Wie Vieh haben sie uns behandelt. Wir konnten doch nichts dafür. Das waren die Nazis, die haben den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht. Wir mussten gehorchen. Von den Schweinereien wussten wir nichts.“

Schockiert hörte ich von meiner Oma die Sprüche, die ich aus Zeitung und Fernsehen kannte. Es waren ‚die‘ und nicht ‚wir‘. Sie musste von den Deportationen gehört haben und die Gerüchte über die Geschehnisse in den KZs. Wie konnte sie sich nicht schuldig fühlen? Diese Selbstgerechtigkeit machte mich fassungslos.

 

In der Zeit nach der Beerdigung:

Seit diesem Gespräch habe ich nur noch wenig mit ihr gesprochen. Sie verweigert jede Antwort auf meine drängenden Fragen. Ich fühle mich wie erschlagen: mein Opa ein Folterer und Mörder, meine Oma eine Mitwisserin.
Wie soll ich damit umgehen? Ich fühle mich verraten und gleichzeitig liebe ich sie weiter. Darf ich sie noch lieben?

Ich – ein Täterkind! Fühle mich wie traumatisiert. Nachts wache ich schweißgebadet auf, träume von Hunde- und anderen Leichen,

Schuldgefühl und Scham erfüllen mich, obwohl ich da noch gar nicht geboren war. Bin ich wie mein Großvater? Vererben sich solche Eigenschaften?

Ich habe ein brennendes Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen. Aber wie? Alles ist ein Zuwenig.

Seither frage ich mich immer wieder, was aus mir in einer solchen Zeit geworden wäre. Wäre ich auf diese Propaganda hereingefallen? Wenn ich schon als Kind im Elternhaus diese kruden Ideen aufgesaugt hätte … Wäre ich nicht stolz darauf gewesen, ein Arier zu sein, zum auserwählten Volk zu gehören? Hätte ich es geliebt, ein Pimpf zu sein? Hätte ich meinem Großeltern geglaubt, dass die Juden schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg sind? Dass sie Verräter, Lügner, Volksvergifter sind? Dass unser Blut überlegen ist?

Ich hoffe verzweifelt, dass ich anders gewesen wäre …

 

 

 

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