Von Marianne Apfelstedt

1970

Oma Hannelore war eine Sammlerin. Entmutigt sah Ute sich um, in diesem Zimmer hingen weitere Bilder und Fotos, Facetten von Farbe, soweit das Auge reichte. Jetzt nach Omas Tod sortierte sie den Besitz aus. Die Hinterlassenschaft eines ganzen Lebens. Das Klingeln des Telefons forderte ihre Aufmerksamkeit.

„Hallo Jan. Ich bin noch dabei, mir Überblick zu verschaffen.“

„Oma Hanne hatte jede Menge Gemälde und die Möbel dürften auch einiges Wert sein. Die Spedition kommt am Dienstag, der Kunsthändler in München wird alles durchsehen. Mein neuer Fall ist sehr zeitintensiv, ich kann nicht wie versprochen mithelfen. Du schaffst das auch alleine, Schwesterherz.“

„Na toll, der Herr Rechtsanwalt lässt mir die Arbeit und möchte nur die Rosinen fein säuberlich aussortiert und verpackt geliefert bekommen. Herzlichen Dank!“

„Nicht sauer sein. Wenn alles erledigt ist, erhältst du deinen Anteil. Dafür kannst du Omas Häuschen behalten. Frohes Schaffen, ich treffe mich jetzt mit meinem Mandanten.“ Ute verdrehte die Augen, als Jan auflegte.

 

Stunden später, nachdem Ute alle Räume gesichtet hatte, machte sie es sich auf Omas grüner Samtcouch gemütlich, deren blinde Stellen von bunten Patchwork-Decken versteckt wurden. Um sie herum lagen Ordner und Berge mit Büchern, auf dem Tisch warteten Coca-Cola und ein Käsebrot. Auf dem Ohrensessel hatte sie Notizbücher, jedes in braunes Leder gebunden und mit Hosengummi zusammengehalten, abgelegt. Die würde sie jetzt durchsehen. Sie schob sich das letzte Stückchen in den Mund und spülte mit einem großen Schluck Cola nach. Ute griff sich das oberste Buch, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und legte die Beine auf den Hocker. Als sie das Gummiband löste, rutschte ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto auf ihren Schoß. Drei Frauen blickten lächelnd in die Kamera. Ganz rechts Oma Hanne mit dunklen Haaren und gertenschlank. Auf der Rückseite stand in Omas geschwungener Handschrift Käthe, Erna, Hannelore. Sie legte das Foto neben sich und öffnete das Notizbuch.

 

August 1904

Ein aufregender Tag liegt hinter mir. Heute besuchten mein lieber Klaus und ich die Ausstellung des Kunstvereins München. Ich lernte die faszinierende Künstlerin Käthe kennen. Klaus, der sie aus der Akademie kannte, stellte mich ihr vor.

Es folgten Bleistiftskizzen. Ute klappte das Buch zu. Sie legte den Fund zur Seite und nahm sich ein anderes Notizbuch vom Stapel.

 

  1. Juni 1937

Beim Betreten des archäologischen Instituts in den Hofgartenarkaden spürte ich die Kälte, die von den Wänden strahlte und von den Braunhemden, die große Holzkisten hereintrugen. Im Obergeschoss waren etliche Exponate ausgestellt. Auf dem Treppenabsatz zog ein Holzkruzifix meinen Blick auf sich. Die plastische Darstellung der hervorstehenden Rippen zog mich in ihren Bann, staunend blieb ich auf der Holztreppe stehen. „Sie da! Haben Sie nichts zu tun?“, herrschte mich ein SA-Sturmführer an. Mit rotem Kopf hetzte ich hinauf und in den ersten Raum, der vollständig mit Bildern und Skulpturen christlicher Motive dekoriert war. Ich lief weiter. Klaus fand ich nicht. Im nächsten, fast leeren Saal wurden Holzkisten von Helfern ausgepackt. Viele mir unbekannte Porträts und Landschaftsbilder bedeckten die Wände. Ein Winterbild von Marc Chagall fiel mir ins Auge, daneben stand in schwarzer Farbe: „Aufmarschplan der Kulturbolschewisten“.

Im angrenzenden Raum wurden verschiedene Bilder aus den Rahmen gelöst. Ein weiterer SA-Mann fand meinen Namen auf seiner Liste und wies mich an, die gegenüberliegende Wand zu bemalen. Die Konturen waren vorgezeichnet. Beim Malen bemerkte ich, dass es sich um ein Werk von Wassily Kandinsky handelte. Als ich fertig war und die Pinsel reinigte, klebte ein mir Fremder zwei Bilder stümperhaft an die Wand, dazwischen hängte er verschiedene Ausgaben des Dada-Magazins. Ich konnte und wollte mir auf das Ganze keinen Reim machen. Jemand schrieb die Parole „Verrückt um jeden Preis“ mit schwarzer Farbe neben die Kopie von Kandinskys Werk. Jetzt bereute ich, mich freiwillig gemeldet zu haben, ich schlich aus dem Saal. Verließ diesen Raum des Hohns, bevor mir aufgetragen wurde, Kunstwerke aus ihren Rahmen zu schneiden und an die Wand zu heften.

Klaus kam abends betrübt und mit schmerzendem Stumpf nach Hause und erzählte mir, er habe ein Bild von Käthe entdeckt. Es ist ihm gelungen es in diesem Tollhaus zu verstecken. Denn, obwohl die Ausstellung „Entartete Kunst“ am 19. Juli eröffnet werden sollte, waren 20 Tage vor Ausstellungsbeginn nicht alle Räume fertig.

Müde legte Ute das Notizbuch neben sich. Oma hatte nie etwas aus der Zeit vor dem Krieg erzählt. Sie nahm Ordner, die mit „Wichtig“ beschriftet waren, um sie in das leere Regal zu stellen. Zwischen den Seiten rutschte ein Papier heraus und segelte unter die Couch. Sie angelte nach dem vergilbten Blatt. Es enthielt nur drei Zeilen mit Schreibmaschine getippt.

Sonnenuntergang auf Hiddensee K. L.

Berner Landschaft K.L

Blumenstillleben mit Pferd K.L.

Wer war K.L.? Vielleicht kann Katrin sich einen Reim darauf machen. Ich bin zu müde. Ute verstaute die Tagebücher im Regal und legte das Foto und die Liste obenauf.

Morgens um acht klingelte sie der Wecker aus den Federn. Die Kaffeemaschine blubberte vor sich hin und verströmte ihr Muntermacharoma, als Katrin mit ihrem Käfer in den Hof fuhr. Ute umarmte die Freundin herzlich.

„Bin ich froh, dass du mich nicht im Stich lässt.“

„Lass mich raten, dein Bruder ist verhindert. Warum wundert mich das nicht?“

Nach dem Frühstück räumten sie den Kleiderschrank aus und verpackten alles für das Rote Kreuz. Mittags erzählte Ute Katrin von den Büchern und dem Blatt, das sie gefunden hatte.

„Hört sich spannend an. Zeig mir doch mal deine Fundstücke.“ Ute holte Foto, Zettel und Notizbücher und breitete alles vor Katrin auf dem Küchentisch aus.

„Oma Hanne erkenne ich sofort. Die beiden anderen Frauen habe ich noch nie gesehen.“

„Geht mir genauso. Ich denke, bei der Liste könnte es sich um Gemälde handeln.“

„Das ist gut möglich. Dann ist K.L. eine Signatur“, vermutete Katrin. „Hat Hannelore gemalt?“

„Ich sah sie nie malen und über ihre Jugend hat Sie nie erzählt.“

„Lass uns doch mal die abgehängten Bilder durchsehen.“ 

„Ute, schau mal. Wie war das mit dem Blumenbild?“

„Ein Blumenstillleben mit Pferd!“ Sie bestaunte mit Katrin den Fund. In der Mitte standen ein Frühlingsblumenstrauß und daneben eine kleine Holzfigur, ein Pferd.

„Eine Signatur kann ich nicht erkennen.“

„Schau genauer hin. Rechts neben der Blumenvase, in der gleichen Farbe wie das Holzpferd. K.L.“, triumphierte Katrin.

„Dieses Gemälde steht auf unserer Liste. Jetzt suchen wir die Berner Landschaft und einen Sonnenuntergang auf Hiddensee. Hast du eine Ahnung, wo dieser See ist? Könnte er in der Schweiz liegen? Vielleicht lebte die Künstlerin dort?“

„Hatte Hannelore einen Atlas? Dann können wir nachsehen.“

„Bei den aussortierten Büchern habe ich einen entdeckt.“ Ute fand das Gesuchte im Gästezimmer. „Du wirst nicht glauben, wo dieser See ist“, rief Ute grinsend. „Es ist eine Insel westlich von Rügen.“ Beim erneuten Überprüfen der Bilder entdeckten sie ein Gemälde mit Sonnenuntergang am Meer, in verschiedenen Grau-, Blau-, und Rot-Tönen. Dieses Bild war unten rechts signiert. Das Landschaftsbild fanden sie ebenfalls.

„Hast du alle Notizbücher durchgesehen?“, fragte Katrin.

„Nein, gestern war ich zu müde. Mach uns mal Kaffee, dann hole ich die Bücher und wir sehen sie zusammen durch.“ Sie vertieften sich in die Aufzeichnungen.

„Schau mal Katrin, ich habe eine Postkarte mit einem Leuchtturm gefunden. Hinten drauf steht: Hiddensee, Juli 1930. Liebe Hannelore, wir planen eine Ausstellung in der blauen Scheune. Ich wünschte, du könntest mich hier besuchen, nirgends ist der Himmel weiter als an der Ostsee und der frische Wind bläst trübe Gedanken davon. Deine Käthe“, las Ute vor.

„Hier steckt auch eine Postkarte drin. Sie zeigt das Stuttgarter Rathaus. Auf der Rückseite steht: Stuttgart, 18. Februar 1927. Liebe Hannelore, ich soll dich von Erna grüßen. Wir freuen uns schon auf deinen Besuch. Den Rest kann ich nicht lesen, da ist ein Wasserfleck darauf.“

„Ich glaube, diese Gemälde sind von Käthe. Wer war sie? Hast du eine Idee?“

„Ein Freund studiert an der Technischen Universität München. Wenn ich wieder in München bin, bitte ich ihn, mir Bücher über Malerinnen aus dieser Zeit von der Bibliothek mitzubringen. Wir wissen ja schon einiges von Käthe.“ Den Nachmittag verbrachten die Freundinnen mit Putzen. Abends gönnten sie sich Pizza beim Italiener. Sonntag war Wände streichen angesagt, das ganze Häuschen erstrahlte in zarten Pastellfarben. Die drei Gemälde hingen jetzt im Wohnzimmer. Das Rätsel um die Malerin ließ sie nicht los. Durch die Notizbücher hatte sie eine andere Seite von Oma Hanne kennengelernt, die niemals von Malern und Ausstellungen erzählte. Die Frau aus den Büchern, war jung und fröhlich. Ute kannte Oma nur in der Küche backend und strickend, mit Farbe und Pinsel, unvorstellbar. Opa Klaus, der sie oft nach München ins Museum einlud, verriet ihr einmal, wie er sein Bein verlor. „Die Oma wird nur traurig, wenn sie sich erinnert“, sagte er bei einem dieser Ausflüge.

Ute hatte sich gemütlich mit einem Roman auf das Sofa gekuschelt, als das Telefon klingelte. Unwillig legte sie das Buch zur Seite und griff nach dem Telefonhörer.

„Ute, ich habe unsere Malerin gefunden, sie heißt Käthe Loewenthal. Am Wochenende komme ich vorbei, dann erzähle ich dir ihre Geschichte.“

 

1971

In Hadorf angekommen, parkte Ute im Hof des Bauernhauses. Jetzt in den Semesterferien fand sie die Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Erst Oma Hannes Notizbücher brachten sie auf die Idee “Geschichte der Neuzeit“ zu studieren. Wenn sie neue Ausstellungsobjekte sah, fiel ihr Omas lebhafte Beschreibung von Gemälden ein und sie fühlte sich ihr ganz nah. Käthes Bilder warteten sicher verpackt im Kofferraum. Mit klopfendem Herzen klingelte Ute an der Tür von Susanne Ritscher, Käthes jüngster Schwester.

 

Version 3/9938

 

Reale Personen (kursiv) wurden von mir zu einer fiktiven Geschichte um Oma Hannelore versponnen.

http://www.ewetel.net/~joerg.deuber/loewenthal/lebenslauf.html