Von Kerstin Bodenmiller

 Cora warf sich in ihrem Bürostuhl zurück, zog sich die Lesebrille vom Gesicht und rieb sich über den Nasenrücken, der deutlich spürbar Abdrücke ihres Nasenfahrrades aufwies. Ihre Schläfen pulsierten schmerzhaft und ihre Augen brannten, Nachwehen einer zu kurzen Nacht und begünstigt durch die stundenlange Arbeit am PC. Glücklicherweise fand heute kein Meeting statt und sie konnte sich mit ihren Augenrändern hinter dem flimmernden Bildschirm verstecken. Scherze über eine eventuell durchzechte Nacht konnte sie heute ebenso wenig ertragen wie falsches Mitleid oder den Rat, sich Hilfe zu suchen. Cora schloss die Augen und gönnte sich ein paar Minuten Auszeit. Ruhephasen kamen wirklich zu selten, seid ihr Mann Bernd sich vor knapp neun Monaten von ihr getrennt hatte und sie mit ihrer gemeinsamen Tochter Maja zurückließ. Er könne nicht länger mit einem Workaholic zusammenleben, so seine Worte, doch Caro wusste es besser. Zu oft hatte sie das billige, fremde Parfüm an seinem Hemdkragen gerochen. Tatsächlich wäre ihr die Trennung selbst egal gewesen, die Liebe war schon lange tot, zwei emotionale Zombies, am Leben gehalten von der Erwartung der Gesellschaft. Nein, das Problem bestand darin, dass er ohne Weiteres verschwunden war und sich nicht mehr bei ihr oder gar Maja gemeldet hatte. Unterhaltszahlungen kamen natürlich auch keine. Cora öffnete die Augen und blinzelte ein paar Mal, ehe sie ihre Lesebrille zurück auf die Nase schob und sich ihrer Tabellenkalkulation widmete. Nein, die Trennung von Bernd schmerzte nicht, nur die Folgen daraus.

 

„Boa ich hasse dich!“, brüllte Maja, griff sich das Kirschkernkissen vom Sofa und schleuderte es Cora entgegen, die dem erwarteten Angriff gekonnt auswich. Da waren sie wieder, die Kopfschmerzen, waren sie jemals fort gewesen? Die Hand wanderte wie schon morgens im Büro an die Schläfe und fand die schmerzende Stelle auf Anhieb. „Maja, du bist 13, du wirst dir definitiv keinen Piercing stechen lassen! Das ist mein letztes Wort.“, Cora bemühte sich redlich um eine ruhige Stimme, doch der Schlafmangel machte es ihr ungemein schwer.

„Was ist denn so falsch an einem dämlichen Piercing? Ein beschissener kleiner Piercing? Das kostet doch echt nicht die Welt, oder?“ „Nicht in diesem Ton. Ich habe nein gesagt!“ Cora hob das Kirschkernkissen, eine kleine stilisierte Avocado, vom Boden auf und legte es auf die Armlehne des Sessels neben sich. Maja stieß einen kurzen Wutschrei aus und stapfte an Cora vorbei aus dem Zimmer, wobei sie unbeholfen nach dem Kirschkernkissen schlug. „Maja!“ Cora rief ihr nach, doch der laute Knall der Zimmertür ihrer Tochter ließ sie erahnen, dass das Gespräch gescheitert war. Mit tiefem Seufzen sank sie auf den Sessel herunter, die Avocado lächelte sie schief von der Seite an. Noch vor kurzem war dieses Kissen Maja so wichtig gewesen, sie hatte es überall hin mitgenommen. Jetzt war es nur noch ein Staubfänger. Cora betrachtete das Kissen, ein Geschenk von Bernd. Dann schleuderte es sie mit aller Kraft gegen die Wand.

 

Das Surren des Kaffeeautomaten bohrte sich wie ein Presslufthammer in Coras Kopf. Wieder hatte sie kein Auge zugetan. Die ständigen Streitereien mit ihrer Tochter raubten ihr den letzten Nerv. Natürlich befand sich Maja gerade in einer Rüpelphase, und doch wünschte sich Cora etwas mehr Verständnis von ihrer Tochter. Aber Verständnis wofür? Für die vielen Stunden, die sie arbeitete, um weiterhin die Miete berappen zu können? Dafür, dass sie selbst zu Hause noch Akten wühlen musste, weil die Zeit im Büro zu knapp bemessen war? Das sie sitzen gelassen wurde? Bei all den Fragen verschlimmerten sich ihre Kopfschmerzen nur. Dankend nahm sie zur Kenntnis, dass der Kaffeeautomat sein Werk erfüllt hatte und entnahm den Becher mit dem lebensrettenden Elixier. Auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch lief sie ihrem Vorgesetzten Stefan in die Arme. „Sie sehen heute schlecht aus, Cora. Lange Nacht gehabt?“ Coras Nackenhaare stellten sich beim Klang seiner Stimme auf. Sie konnte diesen schmierigen Kotzbrocken nicht ausstehen und zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln: „Migräne, Stefan, nichts weiter“.

„Migräne, soso. Ich hoffe, diese Migräne verfliegt bald wieder. Ihre Leistung in letzter Zeit entspricht nicht meinen Erwartungen. Die Präsentation zum Projekt Kramer war mittelmäßig. Ich hoffe, Sie können beim Projekt Fallin besser abschneiden, ansonsten müssen wir uns überlegen, ob sie für diese Position tragbar sind. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“ Mit diesen Worten zog der Nadelstreifenvampir mit falschem Lächeln ab und ließ Cora entgeistert zurück. Diese blickte auf den Kaffee herunter, der eben noch ein Lebensretter zu sein schien. Auf diesen Schreck hätte sie wohl eher einen Brandy gebraucht.

 

„Maja, mach die verdammte Musik leiser!“ Cora hämmerte mit der Faust gegen die verschlossene Zimmertür ihrer Tochter. Ed Sheerans Song „Bad Habits“ dröhnte durch die Wohnung und betitelte damit die Situation. Das Abendessen hatte sich zu einem Schreiduell entwickelt, nachdem Maja ihrer Mutter die Schuld am Verschwinden ihres Vaters gegeben hatte. „Büroschlampe“ hatte Maja gehetzt. Cora war daraufhin die Hand ausgerutscht. Faszinierend, wie eine einzige Ohrfeige die Macht besaß, völlige Stille herbeizurufen und zugleich die Welt einzufrieren. Zumindest waren Cora die zwei Sekunden der Schockstarre wie eine Ewigkeit vorgekommen. Danach brach die Welt zusammen, Maja tobte und warf mit allem um sich, was sie finden konnte, ehe sie unter Tränen und Verwünschungen gegen ihre Mutter in ihrem Zimmer verschwand und die Musik zu voller Lautstärke aufdrehte. Cora hämmerte erneut erfolglos gegen die Tür. Gehetzt blickte sie zur Uhr, es war kurz nach 22:00Uhr, lange würden die Nachbarn den Lärm nicht mehr akzeptieren. Dann würde sie sich auch noch Vorwürfe anhören können, sie sei eine schlechte Mutter. Verflucht, das dachten sowieso alle! Cora schlug ein letztes Mal gegen die Zimmertür, dann rannte sie in den Flur, riss den Stromkasten auf und stellte den Sicherungsschalter für Majas Zimmer aus. Schlagartig verstummte die Musik und wurde einen Augenblick später vom Gezeter ihrer Tochter abgelöst. Cora sank erschöpft auf die Knie. Sie zitterte, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Ihr Leben war ein Albtraum. Sollte es etwa so weitergehen? Leistungsdruck bei der Arbeit, Streit zu Hause? Was blieb ihr noch?  Eine Welle der Verzweiflung ergriff Cora, sie schlug sich die Hände vors Gesicht und ließ zum ersten Mal seit der Trennung von Bernd ihren Tränen freien Lauf.

 

Surrender Kaffeeautomat, Klappe die Sechste. Cora fühlte sich wie ein ausgewrungener Waschlappen, einzig der Kaffee hielt sie aufrecht. Nach ihrem gestrigen Zusammenbruch hatte sie vergeblich versucht, für das heutige Meeting zum Fallin-Konzept eine ordentliche Präsentation zu erstellen. Ordentlich war dabei die falsche Bezeichnung. Sie sah sich schon selbst, wie sie Stefan den Stapel mit den Unterlagen einfach vor die Füße warf und mit erhobenen Stinkefingern durch das Großraumbüro tanzte, bis der Wachdienst sie freundlicher Weise zur Tür brachte. Tiefseufzend und mit hängenden Schultern schlurfte Cora an ihren Schreibtisch zurück, stellte den Kaffee ab und griff nach ihrem Aktenordner. Sollte sie überhaupt zum Meeting gehen? Sie könnte einen Magendarminfekt vortäuschen, nicht einmal Stefan konnte erwarten, dass sie mit Cortez´ Fluch eine Präsentation hielt. Sie starrte einen Augenblick ins Leere, dann schlug sie den Ordner auf, um die Fakten, die sie in wenigen Stunden darstellen sollte, nochmals zu überfliegen. Doch statt des erwarteten Deckblattes lag ein kleiner, in der Mitte gefalteter, mit rosafarbenen Sternen umrahmter Zettel oben auf. Cora wurde heiß, Blut schoss ihr ins Gesicht. Sie kannte das Papier, Briefpapier um genau zu sein. Maja hatte sich dieses zur Einschulung gewünscht und ihre ersten Schreibversuche darauf ausgeübt. Cora spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen, die Finger, mit denen sie das Papier griff, zitterten. Vorsichtig, fast ängstlich, als würde sie sich vor dem Inhalt fürchten, schlug sie den Brief auf. Sie las den Inhalt, las ihn einmal, noch ein zweites Mal. Nur zwei kleine Zeilen waren dort in der bauchigen Handschrift ihrer Tochter verfasst worden, zwei Zeilen, die Cora die Tränen wie Sturzbäche übers Gesicht laufen ließen und ihr mit einem Schlag eine Last nahmen, die sie unbemerkt all die Zeit über geschultert hatte:

 

Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Ich hab dich lieb.

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