Von Monika Heil
Sie hatte die Worte fallen lassen, wie eine Handvoll spitzer Steine und er war darüber gestolpert. Warum nur hatte sie das gesagt und ihm damit so wehgetan? Warum gerade jetzt?
Schlaflos hatte Vera die ganze Zeit darüber gegrübelt, was sie mit ihrem späten Geständnis angerichtet hatte. Henry hatte mitten in ihrer Diskussion wütend und türenschlagend das Wohnzimmer verlassen und die Nacht im Gästezimmer verbracht. Gegen Morgen war sie schließlich doch in einen leichten Schlaf gefallen und hatte nicht gehört, wie ihr Mann das Haus verließ. Der Anruf seiner Sekretärin weckte die Verzweifelte. Benommen schaute sie auf die Uhr. Kurz nach neun. Ehe sie ihr Handy gefunden hatte, das nicht, wie gewohnt, auf ihrem Nachttisch lag, sprang die Sprachbox an.
„Schneider hier. Guten Morgen Frau Lengenfeld. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann ins UKE Eppendorf eingeliefert wurde. Wahrscheinlich Schlaganfall. Bitte, rufen Sie mich an.“
Nein, er war nicht nur über ihre Worte gestolpert. Er war über sie gestürzt. Vera drückte mit zittrigen Fingern die gespeicherte Nummer und schrie fast in den Hörer:
„Frau Schneider, was ist passiert?“ Und so erfuhr sie, dass die Sekretärin bei Dienstbeginn ihren Mann am Schreibtisch zusammengebrochen vorgefunden und sofort den Notarzt gerufen hatte.
„Bitte, rufen Sie mich sofort wieder an, wenn Sie Näheres über seinen Gesundheitszustand wissen. Und, Frau Lengenfeld, bitte kommen Sie später, wenn möglich, auch hier in der Firma vorbei. Ich muss Ihnen etwas zeigen.“ Vera versprach es, ohne zu fragen, worum es ging. Als sie das Krankenhaus erreichte, lag ihr Mann auf der Intensivstation. „Nur ganz kurz“, hatte die Schwester gesagt. Sein Anblick ließ sie in Tränen ausbrechen. Fast fluchtartig rannte sie schnell wieder hinaus und bat, den diensthabenden Arzt sprechen zu dürfen. Dr. Sanders Prognose war niederschmetternd.
Gegen Mittag kam Vera Legenfeld in die Firma ihres Mannes. Frau Schneider begrüßte sie mit großer Anteilnahme, bat sie in das Chefbüro, wo sie bereits Kaffee und ein paar Schnittchen bereitgestellt hatte. Vera war dankbar für beides, merkte sie doch plötzlich, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen und getrunken hatte.
„Frau Lengenfeld, ich muss Ihnen etwas zeigen“, kam die Sekretärin irgendwann auf den Punkt. „Ich fand Ihren Mann zusammengebrochen auf dem Fußboden und neben ihm einen aufgeschlagenen Aktenordner. Wahrscheinlich hat er den im Fallen heruntergerissen. Es handelt sich um den Vorgang „Vorsorge“. Aufgeschlagen war er bei Buchstabe T. Ich kenne den Inhalt. Deshalb weiß ich, das dort sein Testament abgeheftet war, nun aber nicht mehr da ist. Stattdessen fand ich diesen Zettel.“ Sie reichte ihn der Frau ihres Chefs. “Mein letzter Wille! Mein Sohn erbt alles“, stand mit fast unlesbarer Krakelschrift auf einem weißen Blatt Papier. „Haben Sie eine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat?“
Vera nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder, unfähig, ein Wort herauszubringen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wo ist das Testament? Sie musste es finden, wieder abheften dort, wo es hingehörte und sie musste diesen vermaledeiten Zettel vernichten.
„Frau Schneider, haben Sie eine Ahnung, wo das Testament sein könnte?“
„Im Schredder.“ Die Angestellte deutete auf eine kleine Kiste direkt neben dem Schreibtisch.
„Oh mein Gott.“ Zitternd griff Vera nach dem Aktenordner, drückte die Metallschiene zu und schloss die Dokumentenmappe. „Ich nehme diese Papiere mit und spreche mit meinem Mann, wenn es ihm wieder besser geht“, erklärte sie mit zunehmend fester Stimme, bedankte und verabschiedete sich. Kopfschüttelnd schaute ihr die Vertraute des Chefs hinterher. „Was sollte das denn jetzt?“, murmelte sie und räumte das Geschirr zusammen.
Wieder zu Hause setzte sich Vera in ihr kleines, privates Büro, nahm dreimal ihr Handy auf, legte es wieder hin, blättere in diversen Papieren, schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken in vernünftige Bahnen zu lenken. Sie musste ihre Söhne anrufen. Beide mussten erfahren, wie es Henry ging. Uwe, der Ältere, Introvertierte, verdiente sich die ersten Sporen im väterlichen Unternehmen. Zur Zeit hielt er sich ein paar Tage dienstlich in London auf. Ihn rief sie zuerst an. Lars, der Jüngere, wohnte und arbeitete die meiste Zeit des Jahres in seinem Atelier an der Ostsee. Er war der Fröhliche und Aufgeschlossene in der Familie und Henrys absoluter Liebling. Beide versprachen, sofort nach Hause zu kommen.
Henry Lengenfeld starb noch in der selben Nacht. Vera rief ihren Anwalt an, der ihr bestätigen konnte, dass sich in jenem Ordner nur eine Kopie des Testamentes befunden hatte. Das Original sei amtlich hinterlegt und die Testamentseröffnung könne in Kürze erfolgen. Bei aller Trauer, Vera lächelte nun wieder. Sie nahm das überraschende Blatt Papier aus dem Ordner. Dieser „letzte Wille“ ihres Mannes würde keinen Schaden anrichten können. Weder bei Uwe, seinem leiblichen Sohn, noch bei Lars, dem Kuckuckskind.
Nicht noch einmal sollte jemand über die Worte stolpern, mit denen sie in jener verhängnisvollen Nacht ihrem Mann nach zwanzig Jahren endlich gebeichtet hatte, dass Lars das Ergebnis einer kreativen, einwöchigen Schreibwerkstatt auf Sylt gewesen war. Ein romantischer Fehltritt. Mehr nicht.
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