Von Katharina Rieder

‚Wenn mich der Storch vor zwölf Jahren nur nicht bei den falschen Eltern abgegeben hätte!‘

Kaia öffnete die Türe ihres Zimmers. Ihre Stirn lag in Falten. Sie streckte ihren braunen Schopf aus dem Türrahmen.

„Was ist denn schon wieder, Papa?“

„Hast du dein Zimmer endlich aufgeräumt?“

Kaia verdrehte die Augen und starrte auf den blitzblanken Fußboden des Flurs, den ihre Mutter kurz zuvor geschrubbt hatte. 

„Bin schon dabei! Nachher lerne ich für die Wiederholungsprüfung in Englisch und brauche Ruhe!“, flunkerte sie.

Ihr Blick fiel auf den Kehrbesen, der an der Wand lehnte. Sie schnappte ihn. Kaia hatte ihre eigene „Blitzmethode“ entwickelt, um in ihrem Zimmer Ordnung zu schaffen. Sie nahm den Besen und kehrte die am Boden liegenden Kleidungsstücke, Bücher und Essensreste zügig unter das Bett. 

„Perfekt! Das soll mir einmal einer nachmachen!“, sagte sie zufrieden lächelnd.

Kaia richtete ihre Aufmerksamkeit ihrer „streng geheimen Mission“ zu. Der Rucksack war schon gepackt. Es fehlten nur noch die Wasserflasche und die Kekse, die sie ihrem älteren Bruder abgezwackt hatte. Sie streckte sich und bekam ihren gestreiften Schulordner zu fassen. Dahinter hatte sie die Kekse gebunkert. Als sie den Ordner aus dem Regal nahm, segelte unbemerkt ein Blatt Papier auf ihr zerwühltes Laken. Sie schnappte sich stattdessen ihren Rucksack und trat durch die Glastüre auf den Balkon. Leichtfüßig lief sie über eine Seitentreppe, die hinter das Haus führte. Sie schwang sich auf`s Fahrrad und radelte los. Schon von weitem sah sie ihre beste Freundin Lena am Wegesrand warten.

‚Ach, nee! Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein!‘

Sie bremste direkt vor Lena und ihrem jüngeren Bruder ab. Straßenstaub wirbelte hinter ihr auf. Ihre Freundin sah sie schuldbewusst an.

„Ich weiß! Er hat mich ertappt, wie ich mich davongeschlichen habe. Er verrät uns, wenn wir ihn nicht mitnehmen!“

Jonas grinste breit und klammerte sich an seinem Lieblingskuscheltier fest. 

„Teddy kommt auch mit!“, sagte er entschlossen. 

Kaia seufzte, stellte ihr Rad hinter einem Brennholzstapel ab und folgte einem geschwungenen Pfad, der hinter dem Haus direkt in den Wald führte. Sie drehte sich um und schaute erwartungsvoll.

„Na, kommt ihr endlich? Später soll das Wetter schlechter werden.“

Lena blickte zur Sonne. Sie brannte heiß auf sie herab, nur vereinzelt baumelten ein paar Wolken am Himmel. 

„So ein Quatsch! Ist doch richtiges Badewetter heute! Komm, Jonas, geh weiter!“

Die Kinder folgten dem Serpentinenweg. Unter ihren Füßen knirschten die Kieselsteine. In der Nähe hörten sie einen Bach rauschen. Es ging steil nach oben.

„Lena, ich kann nicht mehr! Ist mir zu anstrengend!“, rief Jonas, der normalerweise um diese Zeit in seinem Bett Mittagsruhe hielt. Er setzte sich verdrossen auf einen Baumstumpf. 

„Okay, kurze Pause!“, verkündete Lena. 

Kaia kramte im Rucksack nach ihrer Wasserflasche und reichte sie herum. 

Eine kaum merkliche Brise kam auf. Zwischen den Fichten zauberten Streiflichter faszinierende Muster auf den Waldboden. 

***

Die Kinder erreichten den Bergsee, zogen sich aus und warfen ihre Klamotten auf die Erde. 

„Wer zuerst im Wasser ist!“, rief Lena aus.

„Ich brauche noch meine Schwimmflügel“, erinnerte Jonas.

„Mist! Daran habe ich gar nicht gedacht!“

Jonas sah seine Schwester entsetzt an. Dicke Tränen bahnten sich ihren Weg aus seinen Augenwinkeln und kullerten auf seine geröteten Wangen. 

„Ist doch nicht so schlimm, Jonas! Wir passen ja auf dich auf!“, tröstete Kaia und streckte ihm zum Trost einen ihrer stibitzten Kekse entgegen. 

Jonas stopfte ihn gierig in den Mund und sauste mit Krümeln auf seiner Brust in den See. Er beobachtete die Fische, die sich im Wasser tummelten und nach den restlichen Bröseln schnappten. 

Kaia und Lena sprangen mit Anlauf hinterdrein, tauchten unter und prusteten kurze Zeit später vergnügt an der Wasseroberfläche. Über ihnen schlossen sich immer mehr Wolken zusammen und schoben sich vor die Sonne. Der Ostwind wurde stärker. Die Blätter an den Ästen bewegten sich lebhaft. Während Kaia und Lena mit Jonas in der Nähe des Ufers plantschten, gewann der Wind an Kraft und rüttelte an den Zweigen der Bäume. Er riss an den am Boden verstreuten Kleidungsstücken der Kinder und fegte Lenas Sonnenhut durch die Luft. 

„Mein Hut!“

Lena schwamm an Land und hechtete ihrer Kopfbedeckung hinterher. Sie bekam sie zu fassen. Kurz darauf donnerte und blitzte es furchterregend. Lena zuckte zusammen und richtete ihren Blick zum Himmel. Mittlerweile hatte sich eine dunkle Wolkenfront gebildet. 

„Jonas! Kaia! Es beginnt bestimmt bald zu regnen!“

Die Kinder beeilten sich, aus dem Wasser zu kommen. Lena half ihrem Bruder beim Abtrocknen und drückte ihm Hose und Shirt in die Hand. 

„Schnell! Mach schon! Ich spüre bereits die ersten Regentropfen!“

Erneut zuckte ein Blitz auf. Dann fielen vereinzelt ein paar dicke Tropfen, und bald goss es in Strömen. Schnell bildeten sich tellergroße Pfützen.

„Lasst uns zur Höhle auf der anderen Seeseite laufen! Dort sind wir einigermaßen sicher“, schlug Kaia vor und rannte im Schutz des Waldes los. 

Es prasselte auf die Bäume. Auf der anderen Seite angekommen, erklommen sie eine kleine Anhöhe. Kaia reichte Jonas die Hand und zog ihn hinter sich her. Lena half, indem sie von hinten schob. 

„Gib acht Jonas, dass du nicht in den See purzelst!“, ermahnte Lena ihren Bruder.

Gemeinsam schafften sie es nach oben und zwängten sich in das kalbsgroße Felsversteck. Der See lag grau unter ihnen und wirkte bedrohlich. Kaia holte ihr großes Badehandtuch aus dem nassen Rucksack. Die drei kuschelten sich darunter aneinander und beobachteten die Blitze, die immer wieder zuckend das Firmament grell erleuchteten. Der Donner grollte beängstigend über ihre Köpfe hinweg. Plötzlich schlug ein Blitz am anderen Seeufer in eine Eiche ein. Es krachte und knackte und der Baum wurde regelrecht zersprengt. Der Baumstamm und die außenliegenden Äste brannten wie eine Fackel. Jonas schrie vor Entsetzen auf.

„Ich will nach Hause!“, quengelte er und fuchtelte mit dem Teddy wild vor seinem Gesicht herum. 

„Wir müssen noch warten, bis das Unwetter vorbei ist!“, versuchte Lena ihren Bruder zu beruhigen und ergriff seine Hand.

In diesem Moment entglitt ihm sein geliebter Teddy. Jonas sah dem Kuscheltier mit geweiteten Augen nach und beugte sich vor, um nach ihm zu schnappen. Zu spät, es purzelte Richtung See. Jonas verlor das Gleichgewicht und rutschte in die Tiefe.

„Hilfe!“

Lena richtete sich auf, stieß sich ihren Kopf am Felsüberhang. Just in diesem Moment sah sie ihren Bruder in den kühlen Bergsee eintauchen. Er verschwand unter der Wasseroberfläche. Lena sprang geistesgegenwärtig hinterher.

Kaia stand auf dem Felsen und beobachtete die Szene. Jonas Kopf war schon wieder an der Oberfläche zu sehen. Er schüttelte sich, hustete und spuckte Wasser. Dann brüllte er vor Schreck los. Lena, die dicht neben ihm gelandet war, zog ihren Bruder zu sich und streichelte über seinen Rücken. 

„Alles gut, Jonas! Nichts passiert! Ich bin da!“

Jonas beruhigte sich wieder. Der Himmel wurde von Wetterleuchten erhellt und der Regen ließ langsam nach.

„Wo ist mein Teddy?“, fragte er und schaute sich schniefend um. „Er treibt hier links, Richtung Böschung!“, rief Kaia von oben.

Lena und Jonas wateten zum Ufer. Die Sonne brach golden durch die Wolken und verdrängte die graue Eintönigkeit des Unwetters. Der See glitzerte kristallen und zwei Wildenten landeten schnatternd auf dem See. 

„Kommt! Lasst uns schnell nach Hause gehen!“, forderte Kaia, die mit den Rucksäcken in der Hand am Ufer wartete, auf.

Die Kinder setzten sich tropfnass in Bewegung und folgten im Entenmarsch dem geschwungenen Pfad ins Tal.Als sie das Dickicht des Waldes verließen, strauchelte Lena und blieb wie angewurzelt stehen. 

„Was ist los?“, fragte Kaia von hinten. 

„Oje, das gibt gleich ein Donnerwetter!“, antwortete Lena.

Lena setzte sich wieder in Bewegung, erreichte den Hinterhof ihres Elternhauses und blickte in vier besorgte Gesichter.

„Was fällt euch nur immer ein?“, schimpfte Kaias Vater. 

Lenas Papa hingegen hatte sich ohne jegliche Gesichtsregung mit der Mistgabel in der Hand vor den dreien aufgebaut. Die Köpfe der Kinder hingen wie verdurstende Schnittblumen Richtung Boden. Eine unangenehme Stille breitete sich aus.

„Fräulein, das war das letzte Mal, dass du dich heimlich davongeschlichen hast! Verstanden? Eine Woche keine Einschlaflieder!“, wetterte Kaias Mutter.

Kaias Gesicht überzog sich mit einer Röte, die an überreife Tomaten erinnerte. Sie bemerkte einen Weißstorch, der auf dem Dach landete. Sie betrachtete ihn eingehend und fragte sich neuerlich, ob es sein konnte, dass er sich damals in der Adresse geirrt hatte. 

Kaia und ihre Eltern verabschiedeten sich. 

„Wir müssen uns dann noch in Ruhe über deine Aufräummethoden und deine Sechs in Mathe unterhalten! Wann wolltest du uns das eigentlich erzählen? Du weißt doch, dass wir die Arbeit unterschreiben müssen!“, sagte die Mutter streng.

„Wie bitte? Was? Wovon redest du?“

Kaias Mutter holte den Zettel, der Stunden zuvor unbemerkt aus Kaias Ordner segelte, und reichte ihn ihr. 

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