Von Marie Masse

„Sven, beeile dich, wir fahren gleich!“ Die Stimme der Mutter kommt aus dem Zimmer seiner Schwester.

Oh nein, nicht schon, ist doch früher als sonst, denkt der Elfjährige. Aber ´s dauert wahrscheinlich wie immer noch eine Viertelstunde, bis die Prinzessin ihre Sporttasche gepackt hat!

Konzentriert arbeitet er weiter. Er will ja die Zeit bis zur letzten Minute ausnützen … Eigentlich will er es nicht, er weiß, dass er nun aufhören sollte, damit er in aller Ruhe aufräumt und sich fertig macht. Er kann es aber einfach nicht. Jeder Schritt zieht einen weiteren nach sich, wie bei den kleinen Kindern, die Schwierigkeiten haben, einen Stopp beim Gehen auszubalancieren. Immer weiter, bis er es durch äußere Umstände MUSS. Wie oft passiert es ihm!

Leider scheint sich Katja an diesem Morgen beeilt zu haben, denn kurz darauf hört er die Stimmen der Schwester und der Mutter im Flur und es klopft an der Tür. 

„Ich komme“. Schnell heftet er das Blatt in den Deutschordner und legt diesen in seine Schultasche. Er wird es heute Abend in das übliche Versteck im Schrank hineintun. Dafür reicht die Zeit jetzt nicht und es dalassen, einfach unter Büchern oder Ähnlichem, will er nicht. 

*

So, noch einen für heute, die fünf letzten gucke ich mir morgen früh an, langsam reicht es mir. Lara klappt den gerade überprüften Ordner zu und nimmt sich den nächsten. Wirklich nicht verkehrt, sie alle eingesammelt zu haben.

Es war eine spontane Aktion im Laufe der Unterrichtsstunde in der fünften Klasse, als sie merkte, dass mehrere Schüler es sich mit dem richtigen Einordnen der Arbeitstypen schwer machen. Sorgfältig hat sie bei jedem Ordner alle falsch einsortierten Blätter herausgenommen und sie einfach unter den jeweiligen Deckel gelegt. Morgen wird sie die Kategorien mit den Kindern durchsprechen.  

Gut, mit Sven sollte es schnell gehen. Er ist ein sorgfältiger Schüler mit einem raschen Verstand. Tatsächlich kann sie die ersten Register durchblättern. 

Ups, was ist das? Inmitten der Aufsätze liegt eine Zeichnung. 

Lara bewundert die leichten Striche. Die Figuren scheinen zu leben und das Bild könnte von einem Erwachsenen kommen, der dazu zeichnerische Techniken beherrscht. Obwohl es auf einem einfachen Blatt gemacht worden ist, ist es ein kleines Kunstwerk. Kann er das selbst gemalt haben?  

Lara beobachtet die Szene und wird immer nachdenklicher. Was hat das Ganze zu bedeuten? Denn eindeutig ist die eine Person im Hintergrund Sven selbst. 

Ja, er muss der Autor sein. Ich wusste gar nicht, dass er so begabt ist! … Eigentlich weiß ich wenig über ihn, er ist immer so still.

Soll sie da etwas hineininterpretieren? Sie ist Lehrerin und keine Schulpsychologin. Aber einfach so tun, als ob nichts wäre? Ist es zufällig im Ordner gelandet oder hat Sven mir etwas mitteilen wollen?

Sie beschließt das Blatt dort zu lassen und blättert weiter. Sonst liegen alle Arbeiten in perfekter Ordnung. Bald darauf kann sie aufstehen und sich auf den Weg nach Hause machen.

*

Mit seinem Schlüssel macht Sven die Tür der Wohnung auf und tritt ein. „Hallo, ich bin da!“

Nur die Stille antwortet ihm. Er zieht die Jacke aus und schaut auf die Ablage. Wie so oft liegt ein Zettel:

„Sven, ich bin mit Katja beim Training, Papa holt uns danach direkt von der Arbeit ab. Zusätzliches Training, dauert wahrscheinlich eine Stunde länger. Wir essen, wenn wir alle da sind. Bis später!“

Oh nein, Mama! Du hattest versprochen, mich für den Bio-Test abzufragen! Sven schmettert wütend seine Tasche in die Ecke und marschiert in die Küche zum Kühlschrank. Er hat JETZT Hunger und nicht irgendwann, wenn sich die Prinzessin endlich bequemt, ihre geliebte Turnhalle zu verlassen, wo natürlich die Mutter dabei sein muss, wenn auch nur als stille Zuschauerin, die eigentlich nichts nützt. Außer dass sich die Tochter dadurch bewundert fühlt, das ist ja das Wichtigste!

Sven nimmt sich ein Stück Käse und ein Brötchen, geht in sein Zimmer und holt sein Bio-Heft aus dem Regal. 

Nachdem er dreimal versucht hat, dieselben Zeilen aufzusagen, muss er sich eingestehen, dass er sich nicht konzentrieren kann. Seine Gedanken wandern immer wieder zu der Deutschstunde. Wieso hat Frau Stein gerade heute die Ordner eingesammelt? Was wird aus meinem Bild? Die Zeichnung zu behalten an sich ist doch nicht so wichtig, von solchen hat er genug in seinem Versteck. Aber was wird sie denken? Was passiert, wenn sie es Papa und Mama zeigt?

*

„Hallo, Suzanne!“ Lara pustet auf ihren heißen Kaffee und setzt sich neben ihre Kollegin an den langen Tisch im Lehrerzimmer. Um sie herum herrscht die übliche Hektik während der großen Pause.   

„Hey, ich habe dich heute Morgen noch gar nicht gesehen.“ 

„Nee, ich war früh da, hatte noch in der Klasse zu tun … Du, ich wollte dich fragen: Du hast doch Katja Koch in deiner Klasse, die Zwillingschwester von Sven?“

„Ja, in Mathe. Wieso?“

„Wie ist sie denn?“ 

„Tja … keine schlechte Schülerin, die mit Sicherheit sehr gut sein könnte, wenn sie fleißiger arbeiten würde. Die Schule ist nicht ihre erste Sorge.“

„Was ist ihr denn wichtiger?“

„Sie trainiert sehr hart im Turnen, hat schon, glaube ich, tolle Ergebnisse. Ich habe mal mit den Eltern gesprochen, weil Katja oft für einen Wettkampf am Wochenende reisen muss und manchmal am Montag noch nicht da ist. Sie gehört zu irgendwelchem Kader, frag mich nicht zu welchem, ich kenne mich da nicht aus. Auf jeden Fall hat sie die Unterstützung des Rektors. Warum auch nicht! Solange die Ergebnisse in Mathe stimmen, soll es mir recht sein, sie hat ja einen guten Durchschnitt, wenn auch nicht hervorragend. Sie wird mit Sicherheit die Schule schaffen, denn sie ist begabt, und wenn sie sonst ihre Erfüllung im Sport findet, der erzieht ja auch. Wieso fragst du?“

„In Svens Ordner liegt ein Bild, das mich nachdenklich macht. Ich weiß nicht genau, wie ich reagieren soll.“

„Mit Sven sprechen?“

„Er ist nie sehr kommunikativ, weder mit mir noch mit seinen Kameraden. Ich habe ihn oft allein im Hof gesehen. Und mit seiner Schwester nie.“

„Was zeigt denn das Bild?“

Lara schaut kurz auf die Wanduhr. Bald fängt die nächste Stunde an. Zu spät für Erklärungen. Denn plötzlich hat sie eine Eingebung, die sie prüfen möchte.

*

Wie blöd bin ich! Einmal mehr kann ich nichts richtig machen. Und Frau Stein, SIE ist ja nicht blöd. Nach Leos Vortrag über Geheimschriften letzte Woche wird sie mit Sicherheit Verdacht schöpfen. Nein, nein, nein, was wird sie über mich denken? Und dann? 

„Sven, can you please copy the text? You are dreaming.”

Schon zum zweiten Mal wird Sven durch die Stimme des Englischlehrers aus seinen Gedanken gerissen. 

„´tschuldigung“, murmelt er. Nicht mal seine sonstige Reaktion, solche einfachen Ausdrücke in der Fremdsprache zu sagen, hat er heute.

*

Lara betrachtet erneut das Bild und muss wieder staunen, wie präzis die Züge des Mädchens auf dem höchsten Platz des Siegerpodests gezeichnet sind. Es strahlt Stolz und Zufriedenheit aus, mit einem breiten Lächeln und glänzenden Augen, die sich auf die nicht weit davon stehenden Eltern richten. Diese blicken mit demselben Begeisterungsgesicht auf ihre Tochter und die Position ihrer Hände lässt erahnen, wie wild sie applaudieren. Diese Szene würde eine im Glück vollkommen vereinte Familie zeigen, wenn nicht der Bruder im Hintergrund wie zusammengesackt, mit verschlossenem Mund und leicht gekniffenen Augen allein stehen würde. Da die Eltern zu der Siegerin hinaufschauen, scheinen sie ihren Sohn nicht zu bemerken, haben ihm den Rücken zugedreht. 

Lara nimmt die Kerze in die Hand, die sie sich aus dem Lehrerzimmer gemopst hat – ein Rest der letzten Weihnachtsdekoration –, und erwärmt das Blatt.

Und ja, über dem Kopf des Jungen, da erscheint er, der beste Beweis:

                                                                  UND ICH?  

 

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