Von Ingo Pietsch

„So, jetzt noch die letzte Wand“, Olaf wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine warme Brise wehte zum Fenster herein. Es roch nach Frühling, aber auch nach alten Tapeten und Staub.

Hinter ihm fegte seine Frau Jasmin die Papierfetzen auf dem Parkettboden zu einem Haufen zusammen.

„Oh“, meinte sie, „ich muss mich einen Moment setzen.“ Sie war im fünften Monat schwanger und setzte sich auf eine Cola-Kiste, die als Tritt diente. Sie fasste mit beiden Händen in ihre Jeans-Latzhose und streichelte über ihren gewölbten Bauch.

„Ruhe dich nur aus. Ich mache die Wand noch fertig und dann geht es morgen weiter.“ Olaf holte eine Flasche von der Fensterbank und gab sie ihr.

„Du hast da was“, sagte er mit einem liebevollen Lächeln, zog ein Stück Tapete aus ihren Haaren und küsste sie.

Sie sah sich um: „Das wird ein richtig schönes Kinderzimmer.“

„Ja, mit Blick auf den Garten mit dem riesigen Kirschbaum.“

Sie hatten das Haus zu seinem Schnäppchenpreis ergattern können. Es war in den Vierzigern erbaut und danach mehrfach modernisiert worden.

Es lag etwas abseits, aber mit dem Auto und selbst mit dem Fahrrad war alles gut erreichbar.

Zuletzt hatte eine ältere Dame das Haus bewohnt.

In den Räumen schien die Zeit irgendwann in den Siebzigern stehen geblieben zu sein.

Ihre Freunde, die die anderen Zimmer tapeziert hatten, hatten Witze darüber gemacht, dass es ihnen nicht auch so ergehen würde.

Das Kinderzimmer wollten sie alleine fertig gestalten.

 

Olaf hatte in der vorletzten Ecke angefangen und Jasmin genoss die wärmende Sonne auf einer Bank draußen vor dem Fenster.

Er nutzte einen Akku-Spachtel, der die Arbeit enorm erleichterte.

Manchmal waren die Schichten der Tapete dicker, dann wieder dünner. Wenn man viel Fantasie besaß, konnte man anhand der Umrisse noch einen alten Kleiderschrank erkennen, um den herum tapeziert worden war.

Olaf stand auf der Cola-Kiste, um an die Decke zu gelangen.

Die Kiste wackelte und er drohte umzukippen. Im letzten Moment konnte er sich fangen und setzte seine Arbeit fort.

Mit einem Mal blieb der Spachtel in einer Rille in der Wand hängen.

Olaf stutzte. Er legte die Ritze frei und stellte fest, dass sie vom Boden bis fast zur Decke reichte.

Als er damit fertig war, erkannte er die Umrisse eines Türrahmens.

Er klopfte dagegen, doch die Wand war massiv. Anscheinend war der Durchgang irgendwann einmal zugemauert worden.

Doch wo sollte er hinführen? Olaf konnte sich nicht vorstellen, dass dahinter noch ein Raum lag. So groß war das Haus gar nicht, als dass sich dahinter ein geheimes Zimmer befinden könnte.

Olaf ging ins Nebenzimmer und tatsächlich fehlten dem Raum gut zwei Quadratmeter Fläche, die gar nicht auffielen. Dort war die Wand holzvertäfelt und wirkte, als wäre sie nachträglich hinzugefügt worden.

Olaf beschloss seiner Frau bescheid zu geben.

Wieder stand er vor dem Durchgang und klopfte noch einmal ungläubig dagegen. Zwei Mal.

Er schreckte zurück, denn von der anderen Seite klopfte es zwei Mal zurück.

Dann klopfte er drei Mal.

Und es wurde erwidert.

„Jasmin, hast du das gehört?“ Olafs Blick blieb an dem Durchgang heften. „Jasmin?“ Dann drehte er doch seinen Kopf zum Fenster, aber seine Frau war verschwunden.

„Olaf!“, sagte eine männliche Stimme dumpf hinter der Wand. „Jasmin ist hier bei uns!“

Ihm lief der Schweiß am ganzen Körper herunter. 

Seine Augen brannten, er zitterte und rang nach Luft.

Er überlegte, wie er die Wand einschlagen könnte. Der Werkzeugkasten im Wohnzimmer!

Plötzlich zuckte er zusammen, als es im gleichen Moment an der Tür klingelte.

„Olaf!“, hörte er wieder die Stimme.

Langsam ging er durch den Flur und öffnete vorsichtig die Tür.

Eine freundliche alte Dame stand dahinter. Sie reichte ihm lächelnd einen Topfkuchen: „Hallo, ich bin Margarete Hageböke. Ich bin ihre Nachbarin.“

Olaf nahm den Kuchen entgegen: „Olaf Moritz. Ich, wir, äh, meine Frau ist hinten im Garten.“

Margarete winkte ab. „Ist nicht so wild, ich komme ein andermal wieder. Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.“

Gedanken schwirrten in Olafs Kopf herum. „Sind in diesem Haus schon mal merkwürdige Dinge geschehen?“, fragte er frei heraus.

Schlagartig veränderte sich Margaretes Gesichtsausdruck und wurde sehr ernst.

Sie hielt eine Hand an ihren Mund und begann zu flüstern: „Ich habe im Tagebuch meiner Mutter gelesen, dass kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges tatsächlich etwas sehr Schlimmes hier geschehen sein soll. Die damaligen Bewohner hatten Juden im Haus versteckt. Irgendwann stand eine ganze Abteilung der SS vor unseren Türen. Sie führten Razzien durch und kannten keine Gnade. Doch hier bissen sie sich die Zähne aus. Meine Mutter schrieb, dass es ein wildes Feuergefecht gab. Die Soldaten stürmten das Haus, aber niemand von der SS kam wieder heraus. In der Nacht flohen die Leute, die hier versteckt worden waren. Es wird gemunkelt, dass man die Leichen in einer geheimen Kammer eingemauert hat. Angeblich hörte meine Mutter hin und wieder Stimmen, die nach ihr riefen, wenn sie hier zu besuch war. Aber ich würde nicht so viel darauf geben, sie hatte im Krieg ziemlich viel mitgemacht. Wenn mal etwas sein sollte, können Sie gerne rüberkommen. Schönen Tag noch!“ Margarete Hageböke drehte sich um und ließ den mit offenem Mund dastehenden Olaf einfach zurück.

„Olaf!“, hallte es in seinem Kopf herum.

Er schlug die Tür zu schnappte sich den Werkzeugkasten und hastete ins Kinderzimmer zurück.

Mit der Hammerspitze schlug er die Ritzen nach und dann Stein für Stein heraus, bis ein Loch entstanden war, in das er hineinschauen konnte.

Ein muffiger Lufthauch wehte ihm entgegen.

Olaf musste hussten.

Mit einem tragbaren LED-Scheinwerfer leuchtete er in das Loch.

Er erkannte feuchte, gemauerte Wände und eine grobe Treppe, die in die Tiefe führte.

„Olaf, komm! Hilf uns!“ Die Worte waren jetzt deutlicher zu hören.

Wie automatisch riss er weitere Ziegel aus der Mauer, bis er durchpasste.

Mit dem Scheinwerfer ging er die Treppe abwärts, bis er an eine stabile Holztür gelangte, an der ein schweres Vorhängeschloss und eine Kette hingen.

Erüberlegte, ob er entsprechendes Werkzeug in seinem Kasten hatte.

Aber da waren kein Bolzenschneider und auch keine Metallsäge.

„Olaf! Jasmin wartet hier auf dich!“ Die Stimme kam direkt von der anderen Seite der Tür.

Wütend schlug Olaf mit seinem Hammer auf das Schloss. Funken stoben auf.

Er schlug noch einmal und wieder.

Und dann geschah das Unglaubliche: Nicht das Schloss, sondern der Bügel, an dem das Schloss befestigt war, brach ab und Kette und Schloss fielen zu Boden.

Olaf drückte die rostige Klinke langsam nach unten und die Tür schwang auf.

Hier roch es noch muffiger als auf der Treppe.

Olaf leuchtete in dem Raum herum, der ungefähr die Größe der Hälfte des Grundrisses des Hauses hatte.

Er hielt sich die Hand vor den Mund, weil er nicht glauben konnte, was er da sah: Ein Dutzend mumifizierter Leichen in SS-Uniform, die nebeneinander lagen. Alle hatten die Augen geschlossen und trugen Einschusslöcher am ganzen Körper. 

Der ganze Boden war überzogen mit einem Film aus getrocknetem Blut.

Olaf war nah dran sich zu übergeben. Er konnte den Brechreiz gerade noch unterdrücken, als etwas Seltsames geschah: Von jedem Toten stieg ein kleines rundes Licht auf.

Die Lichter schwebten an dem völlig faszinierten Olaf vorbei. Jedes passierte ihn und er verspürte die Dankbarkeit jedes einzelnen. Jegliche Angst hatte Olaf verlassen.

Jasmin war aber nicht hier unten.

Plötzlich rief sie von oben: „Olaf, bist du hier unten? Ich bin wohl eingenickt.“

Olaf erwachte aus seiner Trance. Er wollte ihr den Anblick der Toten lieber ersparen.

Er schloss die Tür und sah Jasmin im Türrahmen stehen. Er lächelte sie an, wollte die grobe Treppe wieder hinauf und rutschte auf der Kette aus. 

Hart schlug er mit dem Kopf gegen die Wand und alles um ihn herum wurde dunkel …

 

Als er wieder erwachte, lehnte er im Kinderzimmer genau an der Wand, an der er den Rahmen entdeckt hatte. Die Tapete war nur zur Hälfte entfernt und neben ihm stand eine umgekippte Cola-Kiste.

Jasmin kam gerade mit einem feuchten Lappen aus der Küche und legte ihn ihm auf die Stirn.

„Du hast das Gleichgewicht verloren und bist mit der Kiste umgekippt. Das wird ein ganz schönes Hörnchen.“ Sie lächelte ihn an.

„Wie lange war ich weg?“

„Nur ein paar Minuten. Ich wollte eigentlich schon einen Krankenwagen rufen, da kamst du wieder zu dir. Vielleicht sollten wir doch lieber einen rufen. Nicht, dass du noch schwere Schäden davon getragen hast.“

„Mir geht es gut, nur leichte Kopfschmerzen. Ich denke nicht, dass es etwas Schlimmeres ist.“ Olaf versuchte aufzustehen und schaffte es mit Jasmin Hilfe.

Es klingelte an der Tür.

„Ich bin gleich wieder da. Mach mir hier keinen Blödsinn!“, ermahnte sie ihren Mann.

Olaf drehte sich um und begann sofort die Tapete weiter zu entfernen. Aber es gab dort keine Spalten oder Ritzen und schon gar nicht die Umrisse eines Durchgangs.

Er ging ins Nebenzimmer um zu schauen, ob sich dort noch die Ausbuchtung befand. Und tatsächlich war sie noch vorhanden. Aber wofür? Ein Schornsteinsschacht? Die Erinnerungen begannen zu verblassen.

Jasmin schloss die Haustür wieder und brachte einen Topfkuchen mit.

„Der ist von unserer Nachbarin!“

„Margarete Hageböke“, sagten beide gleichzeitig.

Verwundern sah Jasmin ihn an.

„Kam mir irgendwie in den Sinn“, meinte Olaf.

Langsam vergas er alles, was er zu glauben erlebt hatte.

Sie gingen ins Kinderzimmer und teilten sich den Kuchen.

Jasmin streichelte über ihren Bauch: „Das Baby hat mich vorhin wieder getreten. Aber irgendwie so komisch. Erst zwei Mal hintereinander und dann drei Mal. Ist schon merkwürdig.“ 

Er schüttelte den Kopf: „Ja, merkwürdig.“

„Sieh mal, da ist ein Riss in der Wand!“ Jasmin zeigt auf eine bestimmte Stelle.

„Den verputzen wir einfach“, entgegnete Olaf.

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