Von Ines Müller

Porquerolles on Ice

„Porquerolles?“ Mike runzelt die Stirn. „Wo ist das denn?“
„Das ist eine Goldinsel im Mittelmeer nahe der Côte d‘Azur“, erklärt Wemsi.
„Eine französische Goldinsel?“ Mike wendet die Würstchen, der Grill zischt.
„Ein französischer Traum von einer Insel, sag‘ ich euch!“ Wemsi strahlt.
„Du wirkst ja ganz verzückt!“ Mike wechselt Blicke mit Tom, der einen Schluck Bier nimmt und in seinen Dreitagebart hineinschmunzelt.
Wemsis Augen strahlen. „Ja, von Porquerolles träumen Sandra und ich. Letztes Jahr wollten wir‘s realisieren, da kam aber der Lockdown. Also jetzt diesen Herbst.“

„Wir können essen!“ Mike schaut sich um. „Wo sind die Frauen?“
„Also, Sandra schreibt, sie kommt später. Wir sollen schon loslegen“, sagt Wemsi.
„Katrin und Eva schnippeln im Schuppen Gemüse für den Salat, müssten aber bald – ah, da kommen sie.“ Tom geht ihnen entgegen.

Ein sanfter Wind rauscht durch die Blätter der Pappeln auf dem Nachbargrundstück.
„Tut, tut!“
„Oh, ein Lkw auf der Bundesstraße.“ Mike hält seine Flasche hoch. „Prost, auf einen schönen Grillabend!“
„Prost!“, rufen alle.

„Was begeistert dich an Porquerolles, Wemsi?“, fragt Tom.
Wemsi holt Luft und erzählt: „Porquerolles ist eine schnuckelig kleine französische Insel, auf der keine Autos fahren. Also wie gemacht für mich als Fahrradfan und Genusswanderer.“
Katrin nickt. „Für Sandra ja dann genauso.“
„Richtig. Und dann das traumhafte Mittelmeerklima! Zirpende Zikaden, der Duft von Zitronenbäumen, Pinienwälder, Weinberge und sogar Eukalyptusbäume wachsen dort.“ Wemsi nimmt als Letzter einen ersten Bissen seines Steaks.
„Eukalyptus, echt?“, fragt Tom.
Wemsi nickt, schluckt und erzählt weiter: „Ja, und es gibt Sandstrände, aber auch Steilküste, romantische kleine Buchten und türkisfarbenes Meer – da schwärmt Sandra ja so von.“
„Klingt traumhaft“, findet Katrin.
„Und ich freue mich auf Wolfsbarsch frisch aus dem Meer mit mediterranen Kräutern.“ Wemsi legt flugs sein Besteck ab und reibt sich die Hände.
Eva stupst Mike an. „Vielleicht können wir auch mal dorthin fahren!“

Das Gartentor quietscht. „Ah, Sandra ist da.“ Wemsi winkt ihr. „Hallo, mein Schatz! Habe gerade von Porquerolles geschwärmt.“
Sandra senkt den Blick. Verhaltenen Schrittes nähert sie sich dem Tisch und stellt ihre Tasche ab.
„Alles okay?“, fragt Katrin.

Sandra schüttelt den Kopf. „Ehrlich gesagt, nicht so ganz.“
Sie blickt Wemsi an, atmet tief durch.
„Ich bin meinen Job los. Alle sind wir unsere Arbeit ab Oktober los. Bernie muss schließen. Folgen der Pandemie. – Und somit ist leider auch Porquerolles auf Eis.“
Wemsi guckt auf seinen Teller.
Sandra legt ihre Hand auf seine Schulter. Wohl auch, um selbst Halt zu finden.
Betretenes Schweigen am Tisch. Tom reibt sich die Stirn.

„Klingt fast wie ein Cocktail: Porquerolles on Ice.“ Wemsi steht auf, „kurz austreten…“, und ist erstmal verschwunden.

„Gerade Bücher, sollte man meinen, müssten während Corona mindestens so gut laufen wie vorher.“ Mike guckt in die Runde, schüttelt den Kopf.
Tom, Katrin und Eva nicken.
„Eigentlich ja“, sagt Sandra. „Scheinbar kaufen viele Menschen in letzter Zeit ihre Bücher online. Kontaktlos, bequem. Das ist ja auch nachvollziehbar. Doch online wohl leider selten beim eigenen Buchhändler um die Ecke. Das ginge ja bei vielen inzwischen! Oder anrufen und abholen. Oder – ach ja.“ Sandra vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
„Ich bin schockiert, dass Bernie schließen muss“, sagt Katrin.
„Schockiert, wie wir alle – ich glaube, ich gucke mal nach Wemsi.“ Sandra schwingt ihre Beine über die Bank und macht sich auf den Weg zum Schuppen.

Nach einer Weile trudeln Wemsi und Sandra wieder ein.
„Kommt, setzt euch zu uns.“ Mike klopft neben sich auf die Holzbank. „Jetzt grillen wir erstmal. Unsere Freundschaft kündigen wir euch nicht so schnell! Uns habt ihr weiter an der Backe.“
Wemsi lächelt. Sandra nimmt Nudelsalat, Würstchen – und die Bestecke klimpern wieder.
„So klingt Grillatmosphäre!“, ruft Mike.
Nur Wemsis Besteck liegt neben dem Teller und bleibt unangetastet.
„Keinen Appetit?“, fragt Mike.
Wemsi zuckt mit den Schultern.
„Es wird sich ein neuer Job finden.“ Mike guckt zu Sandra.
Sie nickt Wemsi zu. „Bestimmt.“

„Im Winter wird Wemsis Radshop weniger frequentiert. Wir hatten vor, in dieser Zeit die daneben leerstehende Wohnung zu renovieren, die mir meine Oma vererbt hat“, erzählt Sandra.
„Eben kam uns die Idee, das vorzuziehen und statt der geplanten Reise direkt anzugehen.“
„Was habt ihr vor mit der Wohnung?“, fragt Katrin und greift nach der Salatschüssel.
„Eigentlich wollten wir sie vermieten“, Sandra guckt Wemsi an.
„Doch jetzt – “ Aus Versehen stößt sie ihre Bierflasche um. Blitzschnell greift sie nach dem Hals – und die Flasche steht wieder. Nichts verschüttet! Sandra lächelt.
„Doch jetzt?“, wiederholt Katrin.
„Doch jetzt gerade denke ich: Vielleicht mach‘ ich endlich auch was Eigenes auf. Ein Buchladen-Café mit richtig gutem Onlineshop.“
Wemsi guckt Sandra mit großen Augen an. „Ein Bike-Book-Café. Unser Bike-Book-Café: Bikes & Books!“
Sandra nickt und beide strahlen sich an.
„Oh, spannende Idee!“, findet Katrin.
Mike nickt, und Eva klatscht in die Hände. „Toll hört sich das an!“
„Wir helfen euch“, sagt Tom.
„Klar“, ruft Eva.
„In welcher Hinrichtung meint ihr das?“
„Hinsicht, Wemsi. Wir meinen es in folgender Hinsicht“, erklärt Tom. „Wir helfen euch beim Renovieren.“

*

„Tapetenkratzen war immer schon mein Heimwerkertraum.“ Katrin verdreht die Augen. Sandra hält inne. „Ironisch gemeint?“
„Ja, aber für euch kratz‘ ich gerne. Muss ja gemacht werden.“ Sandra zieht ein Tapetenstück ab. „Total lieb, dass ihr alle mithelft! Zusammen geht‘s viel schneller, und schöner ist‘s noch dazu.“ Sandra tätschelt Katrin am Oberarm.
Katrin lächelt und sinniert: „Beim Abkratzen der Tapete springt einfach nichts heraus. Also ich meine, es sieht danach genau genommen schlechter aus als vorher.“ Ein größeres Stück Tapete löst sich. „Da mag ich Streichen oder Möbelaufbauen lieber, weil etwas entsteht.“
Mike nickt und kratzt im Rhythmus zur Radiomusik.

*

Ein Zimmer später…

„Wann wollt ihr Pizza essen?“, fragt Sandra.
„Am liebsten sofort“, sagt Mike.
„Einen Moment! Ich will nur hier neben dem Kamin noch fertigmachen.“ Katrin kratzt und kratzt und – „Oh, habe ich jetzt was kaputt gemacht?“
Hinter der Tapete schimmert etwas Plastikartiges, eingerissen durch Katrins Kratzen.
Sandra inspiziert die Stelle, zieht mit Fingerspitzengefühl und – „Was ist das denn?“
Ein flacher Plastikbeutel kommt zum Vorschein.
„Sieht aus wie Geld“, erkennt Katrin als Erste.
„Tatsache.“ Sandra öffnet den Beutel.
„Wemsi, Tom, Eva, kommt mal bitte alle zu uns ins Wohnzimmer!“ Sandra schüttet den Beutelinhalt in den Korb neben sich und fasst sich an die Stirn.
„Was ist denn, Schatz?“ Wemsi blickt wie alle anderen auch in den Wäschekorb.
„100-Euro-Scheine? Wo kommen denn die her?“
Sandra und Katrin zeigen auf die Wand neben dem Kamin, eilen genau dorthin und kratzen weiter – erneut Plastik!
Ein Plastikbeutel nach dem anderen gefüllt mit grünen Scheinen kommt zum Vorschein. Dann ein handgeschriebener Brief. Sandra liest vor:
„Liebe(r) Finder(in),
seit zwei Jahren kümmere ich mich um meine liebe Nachbarin Gertrud Vogelmann. Elf Jahre hat sie ihren geliebten Mann Georg zu Hause gepflegt. Nach seinem Tod hat ihre Sehkraft immer weiter nachgelassen, und es schien unausweichlich, dass sie das Haus, in dem Georg und sie jahrzehntelang zusammengelebt haben, würde verlassen müssen. Diese Vorstellung brach Gertrud fast das Herz, und auch mir. Gertrud hat keine Kinder oder nahestehenden Verwandten. Also bot ich ihr an, bei behördlichen Dingen, Einkäufen, Arztterminen zur Seite zu stehen und gemeinsam eine vertrauenswürdige Haushaltshilfe zu organisieren. Und ich koche für uns zwei. Für mich muss ich sowieso Essen zubereiten, da ist das ein Leichtes.
Nun hat sie mir einen Koffer mit 36.000 Euro geschenkt. Sie sei mir so dankbar, das Geld sei für mich. Georg hat wohl eine stattliche Pension erhalten, und Gertrud habe immer zu Beginn eines Monats 1.000 Euro vom Bankkonto abgehoben, jedoch über die Jahre dann kaum mehr etwas ausgeben können.
Ich hatte noch nie so viel Geld in meinem Besitz! Neulich habe ich einen italienischen Thriller gesehen, in dem ein kluges Versteck vorkam. Ich probiere das nun selbst und werde alles vorerst hier hinter den Tapeten lagern.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, und ich nicht mehr leben sollte, möchte ich, dass meine Enkelin Sandra das Geld erhält. Das wäre auch in Gertruds Sinn.
Freundliche Grüße, Elisabeth Heck“
Sandra lässt sich auf einen Stuhl plumpsen. Die Worte aus der Feder ihrer geliebten Oma, lassen ihr Tränen in die Augen steigen.
Wemsi schließt Sandra in seine Arme.
„Lebt Frau Vogelmann noch?“, fragt Katrin.
Sandra schüttelt den Kopf.

„Liebe Leute, wisst ihr, was?“ Sandra guckt in die Runde. „Wenn ich diese Summe behalten darf, dann könnten wir alles aufs Schönste fertig renovieren – und: Wir fahren einfach alle zusammen nach Porquerolles!“
„Ja!“, ruft Wemsi. „Dann laden wir euch ein. Eine Woche Porquerolles für uns alle!“
Die Freunde jubeln und liegen sich in den Armen. Tom steht mit einem Grinsen im Gesicht dazwischen, bis Katrin ihn sich packt und küsst.

*

Am Flughafen im Wartebereich.

Kurz vor dem Boarding fragt Tom: „Was kommt rein in den Cocktail, Wemsi?“
„Cocktail?“
„Porquerolles on Ice?“
„Ach so.“ Wemsi zählt auf:
„Gekühlter schwarzer Tee,
Pfirsichscheiben,
Lillet Rosé,
Tonic Water,
Minze,
Crushed Ice oder – das empfehle ich: eine Kugel Vanilleeis.“

Sandra lacht. „Plus eine französische Trauminsel, sechs Freunde, die sich von Jugend an kennen, und eine Woche gemeinsamer Urlaub. Jeglicher Alltag on Ice.“
Alle blicken zu Eva und tatsächlich, sie tut es: Eva klatscht vor Freude in die Hände.
Mike drückt sie kurz an sich, um sie zu herzen.
Katrin berührt Tom am Arm und fragt: „Was schmunzelst du so?“
„Ach, ich hab’ nur überlegt, wo wir als Nächstes renovieren und die Tapeten wechseln könnten.“

V3 (9922 Zeichen inklusive Leerzeichen)