von Birgit Berg

 

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Endlich klappt die Verbindung, wir haben uns lange nicht gesprochen. Wie schön, dass Du in der Heimat bist und es Dir gut geht. Wie es mir geht, fragst Du?

Wenn nur diese anderen sich nicht so stark anlehnten. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Selten Licht zu sehen und wenn, dann nur künstliches, kommt mir dagegen schon normal vor. Wie lange bin ich hier? Von einem auf den anderen Tag kam Michiko nicht mehr zu mir, nachdem wir über Monate täglich gemeinsam unterwegs waren. Mir gefiel die neue Stadt, die vielen jungen Leute, die vielen achtsamen Autos, zwischen denen wir meistens allein dahinfuhren. In dieser Stadt benutzt man nur Autos oder unterirdische Schienenbahnen. Wenige gehen zu Fuß. Oft bin ich ein Hingucker gewesen. Menschen zeigten auf mich und sprachen Michiko an.

Das kenne ich nicht aus unserer Heimatstadt. Nicht nur, dass es dort viele unseresgleichen gab, unter denen Du hoffentlich weiterhin einige Freunde haben darfst. Ich erinnere mich auch gern an die vielen Menschen, die sich dort sogar in der Menge nie berührten auf ihren Wegen durch die wunderbaren Gärten und Parks, eine elegante Sprache und Schrift benutzten, nicht in der Öffentlichkeit schimpften und uns mit unseren schmalen signalroten Silhouetten und der aufgedruckten Herkunft immer mit Achtung behandelten.

Wir konnten uns nicht voneinander verabschieden – Michiko hatte einen Entschluss gefasst ohne mich einzuweihen. Ich kam unversehens in einen Pappkarton, wurde verladen, fortgefahren, wieder ausgeladen und auf einer Rampe nach oben geschoben. Du kannst Dir vorstellen, wie erstarrt ich war vor Kälte und Furcht. Durch kleine Risse im Karton sah ich andere Kästen und Pakete, darunter auch meinesgleichen in einer durchsichtigen Hülle. Dieses gab mir beruhigende Zeichen. Plötzlich setzte Höllenlärm ein. Ich fühlte mich in die Luft gehoben. Mein soeben gefundener Leidensgenosse rief mir zu, es sei alles in Ordnung, dies sei ein Flug erst übers Meer, dann einige Stunden über Land. Meine Besitzerin flöge mit und würde mich nach der Landung wieder abholen.

So geschah es auch.

 

Halt, da geht die Tür auf, vielleicht endlich Befreiung, ich kann nicht weitersprechen.

 

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Hörst Du mich? Ah gut. Es ist doch mehr Zeit verstrichen als ich annahm. In den Jahren seither war ich viel in Bewegung.

Als damals die Tür aufging, traten zwei Männer ein. Der eine entpuppte sich als der Hausmeister des Studierendenwohnheims, in dessen Keller ich fast von meinesgleichen erdrückt wurde. Der zweite räumte alle Kellergefährten von mir ab und musterte jeden einzelnen. Anschließend wandte er sich mir zu. Seine Miene hellte sich auf, als er meine Aufschrift las. Er packte mich und schleppte mich hinauf ins Freie. Ich war geblendet, aber begeistert. Frische Luft und Sonne! In den folgenden Tagen blieb an mir keine Schraube ungelöst, keine Kugel im Kugellager ungefettet, kein Ritzel ungesäubert und -geölt, kein Bowdenzug ungespannt. Bei der Probefahrt fühlte ich mich wie neugeboren. Aber wo war Michiko? Das erfuhr ich zufällig. Mein Wiedererwecker übergab mich an eine Tony, die mich staunend in Empfang nahm. Die erste Fahrt mit Tony gefiel mir. Sie erzählte einer mitfahrenden Freundin, dass der Hausmeister mich freigegeben hatte, da die Vorbesitzerin vor Jahresfrist in unser Heimatland zurückgekehrt war ohne mich mitzunehmen.

Ach Michiko. Mich einfach im Keller stehen zu lassen.

Ich war bereit für ein neues Leben mit Tony.

Es folgten Monate voller Spaß in der Stadt, die ich aus der Zeit mit Michiko schon kannte, aber jetzt erst wirklich kennenlernte. Tony achtete auf mich. Sie fand, ich hätte ein bewegtes Leben hinter mir, denn meine Lackierung sei schon angegriffen. Neu lackieren käme aber wegen meiner Original-Aufschrift nicht in Frage. Jeden Abend wurde ich in einen gepflegten Abstellraum zusammen mit anderen Gefährten gebracht und eingeschlossen. Tony sah mich morgens freudig an und ich dankte dem Schicksal. Es hätte so bleiben können.

Eines Morgens kamen mein Retter und Tony zu mir und maßen mich aus. Mir kroch der Schreck in die Ritzel. Ich dachte an Dich und den ruhigen Fluss Deines Lebens zuhause. Warum war mir das nicht vergönnt?

Diesmal musste ich in eine übergroße Reisetasche passen, was nur unter Auseinandernehmen aller meiner Teile möglich war. Einzig mein Rahmen, in den ich mich als Kern meines Selbst zurückgezogen hatte, blieb unverändert, alles andere wurde abgenommen, zusammengepackt und beschriftet. Mein Retter erstellte einen Wiederaufbauplan mit detaillierter Anleitung. Wohin ging nur die Reise? Ich erfuhr, Tony und ich würden erneut übers Meer, diesmal ein anderes, fliegen, in eine für mich neue Stadt in einem neuen Land. Wozu brauchen sie all diese verschiedenen Länder? Die wesentlichen Dinge des Lebens sind doch überall gleich.

Auch diesen Flug mit Autofahrt in die Stadt zu einem anheimelnden Platz mit Brunnen und ehrwürdigen Wohnhäusern überstand ich. Tony trug mich zwei Stockwerke hoch in ihre Wohnung, stellte mich dort ab und begann, mich anhand des Plans wieder zusammen-zubauen. Es gelang erstaunlich gut und mir fiel ein Stein vom Herzen, hatte ich doch einige Zweifel gehabt.

Diese Stadt erwies sich als grundverschieden von den beiden, die ich schon kannte.

Sie hat viel von allem, was sich bewegt: viele Autos, viele Schienenbahnen, viele Fußgänger, viele meinesgleichen. Und alle fahren und gehen recht kreuz und quer durcheinander trotz Straßenschildern und Ampeln, viele Menschen haben gute Laune, wenige schimpfen, es wird sich öfter und ohne böse Absicht angerempelt, keiner meint es so. Mitten durch die Stadt fließt ein großer Fluss mit ebensolchen Brücken und vielen Frachtschiffen. Was mich am meisten wundert: es gibt in den Straßen etliche Menschen, die aus unserem Heimatland kommen. Sie haben auch ihre Hotels und Restaurants mitgebracht. In meinem Stadtviertel gibt es sogar einen Tempel wie bei uns zuhause, kannst Du Dir das vorstellen? Für mich ist es eine Freude, auf einer der großen Flussbrücken zu fahren und hinter mir unsere Sprache zu hören. Ein bisschen so, wie es für Dich immer sein muss, heimatlich.

Tony arbeitet viel, so dass wir meistens am Wochenende Ausflüge machen. Weil es im Haus keinen vernünftigen Abstellplatz gibt, sagt Tony, trägt sie mich immer in die Wohnung hinauf. Wie gut, dass ich ziemlich leicht bin.

Abgesehen von zuhause bei Dir gefällt es mir hier am besten.

 

Jetzt habe ich so lange erzählt. Du brauchst eine Pause und ich auch – Nein, sagst Du, es sei interessant und bei Dir geschähe so wenig? – Gut, dann melde ich mich bald wieder.

 

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Verzeih, so bald habe ich mich nicht gemeldet. – Das macht nichts, sagst Du, bei Dir sei alles wie immer und Du fragst Dich, was wohl bei mir geschehen ist?

Nun, seit kurzem bin ich wieder in der Wohnung und der Stadt, von der ich Dir beim letzten Mal berichtet habe. In den Jahren dazwischen lebte ich im gleichen Land, jedoch in einer prächtigen Stadt am Meer. Oder genauer: an einer großen Flussmündung kurz vor dem Meer. Tony hatte dort eine Arbeit genau in dem Bereich gefunden, den sie unbedingt kennenlernen wollte. Und so fuhr ich mit ihr und dem Umzugswagen nach Norden. Mittlerweile vertraute ich Tony so sehr, dass ich mich nicht sorgte, sondern gespannt war auf die neue Welt. Unsere Landsleute im heimatlichen Viertel habe ich schon ungern verlassen. Aber wo Tony hingeht, folge ich ihr.

Diese Stadt ist eine Diva, sage ich Dir, auf jeden Fall, was die Gebäude, die wunderbaren Parks und die reiche Natur betrifft. Die Menschen wissen das und sind zugleich sehr handfest, verlässlich, können auf gute Art schimpfen, wenn sie das angebracht finden und natürlich würden sie sich in der Menge nie berühren oder gar anrempeln. Damit die Schönheit der Stadt erträglich bleibt, regnet es viel.

Tony wohnte in einem lebhaften Viertel der Stadt und zur Sicherheit übernachtete ich weiterhin in der Wohnung wegen meiner Aufschrift und dem schlanken Äußeren. Ich stand an den hohen Fenstern im Flur und konnte gut hinaussehen. Was ich sah, verstand ich nicht. Das Erdgeschoss des Nachbarhauses war rot angeleuchtet. Tag und Nacht fuhren Taxen vor und brachten Männer oder holten sie ab. Eine neue Freundin meinte zu Tony, damit müsste sie in dieser Stadt leider fast überall rechnen. Tony selbst hatte manchmal eine merkwürdige zusätzliche Arbeit zu der, für die sie tagsüber das Haus verließ. Sie kam dann mit einem Metallkoffer nach Hause. An diesen Tagen rief abends oder nachts jemand an, Tony sprang auf und machte sich fertig. Wenig später fuhr vor der Haustür ein rotorange und weiß lackierter Wagen vor, groß wie ein Lieferwagen und mit einer blauen Lampe auf dem Dach. Es klingelte, Tony griff nach dem Metallkoffer, verließ das Haus, stieg ein und fuhr fort. Danach kam sie per Taxi zurück und fiel müde ins Bett. Nicht selten geschah das mehrmals pro Nacht. An den darauffolgenden Wochenenden machten wir besonders schöne Ausflüge an das Ufer des großen Flusses oder in die Parks der Stadt. Eines Tages fand Tony, sie habe genug bei dieser Arbeit gelernt und müsse nun wiederum andere Dinge lernen. Daher zöge sie wieder zurück in die Stadt mit unseren Landsleuten. Welche Freude!

Sogar unsere Wohnung ist die gleiche geblieben. Allerdings werde ich heute anders angesehen und lerne neue Worte: Menschen sprechen Tony an zu ihrem vintage bike mit der guten Aufschrift und fragen, auf welcher Plattform sie mich gefunden habe. Aus ihren Gesprächen lerne ich, dass heute ein bike alles können muss, was früher die Fahrerin zu können hatte. Das macht mir Angst. Ich beginne zu hoffen, dass Tony mich in ihrer Wohnung dauerhaft an die Wand hängt. Sie soll mir ein junges Gefährt zur Seite geben, mit dem sie ausfahren kann, das mir seine Erlebnisse erzählt und das, was die Leute aus unserem Heimatland in der Stadt tun. Ich arbeite bei Tony daran.

Dann werden wir beide auch endlich mehr Zeit haben, miteinander zu sprechen.

 

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