Von Katharina Strzoda
Sie schloss die Augen und ging in sich.
Energie strömte durch ihren Körper, pulsierte in ihren Chakren.
Sie holte tief Luft, wie ein Dirigent kurz vor dem ersten Takt.
Der Eimer wog schwer in ihren Händen. Hätte sie gewusst, dass Alpina Nordic White so gut roch, hätte sie sich schon viel eher dieser Aktivität zugewandt.
Ihre Arme spannten sich an, holten mit dem schweren Eimer aus und schwangen in einer fast schon anmutigen Bewegung den gesamten Inhalt zielgenau in die Mitte der Leinwand.
Mit einem Schmatzen erreichte das Weiß seinen Bestimmungsort, überdeckte einen Teil der japanischen Brücke und rann langsam über die Seerosen, wie eine zähe Vanille-Kuvertüre über einen Marmorkuchen.
Eine magische Stille flirrte im Raum.
Kleine Lawinen bahnten sich lautlos ihren Weg zum unteren Rand der Leinwand und ließen sich dann in dicken Tropfen auf den Beton fallen.
Sie beobachtete die Szenerie mit einem zärtlichen Blick. Glück überflutete sie, wie das jährliche lebensspendende Hochwasser des Nil die ausgedörrten Ufer schwemmte.
Es war noch schöner als sie erwartet hatte. Eine Verschmelzung aus damals und heute, eine wirbelnde Fusion von Kunst.
Die Garagentür flog mit einem Knall auf.
„Sibylle. Hier bist du. Ich habe dich schon überall gesucht, der Hund…“ Er hielt jäh inne, einen ungläubigen Ausdruck im Gesicht. „Was zum Teufel machst du denn hier?“
„Herbert, Dummerchen, das ist doch offensichtlich.“
„Du versaust die Garage mit Wandfarbe?“
„Ich bin jetzt Künstlerin.“
„Ach so. Weil deine Karriere sowohl als Stand-Up Comedian als auch als Sängerin und im Line-Dance vollkommen erfolglos war, versuchst du es jetzt mit der Kunst?“
„Da habe ich mich einfach nicht selbst verwirklicht. Das war nicht mein spiritueller Weg. Mein Chi hat mir gezeigt, dass ich zu etwas Anderem bestimmt bin. Und zwar dazu, Spuren in dieser Welt zu hinterlassen. Ein Vermächtnis.“
„Dein Chi? Spuren hast du ja auf dem Bild zweifellos deutliche hinterlassen. Aber Vermächtnis? Pah.“ Er lachte höhnisch auf. „Und zu was denn bestimmt? Zum Versauen von impressionistischen Gemälden?“
„Kein Versauen. Veredeln“, verbesserte sie ihn ungeduldig. Er verstand aber auch wirklich gar nichts. Herbert war so borniert. „Diese von mir entwickelte Kunstform ist hochmodern. Es verbindet schnöde Klassiker mit moderner Kunst, es ist die Verbindung zwischen den Welten, eine Brücke…“
„Apropos Brücke. War da eine Brücke unter diesem weißen Schandfleck?“
„Natürlich. Warum?“
„Wenn ich mir die Überreste des sogenannten ’schnöden Klassikers‘ anschaue, finde ich, dass es ein bisschen wie ein echter Monet aussieht. Ich meine, ich bin kein Experte, aber…“
Plötzlich riss Herbert die Augen auf und keuchte: „Sibylle, bitte sag mir, dass du das Bild vom Kunst- und Antiquitätenmarkt hast. Oder vom Flohmarkt.“
„Nein.“
„Bitte, Sibylle, sag nicht, dass es etwas mit Familie Steiner zu tun hat.“ Seine Stimme, so wimmernd und leise wie die eines zusammengerollten Welpen mit Alpträumen. „Bitte…“
„Doch, die kleine Anna-Lisa hat heute einen kleinen Straßenflohmarkt gemacht, im Wendekreis. Sie hat da alles Mögliche verkauft: Spielzeug, Vasen und eben auch dieses Gemälde. Da bin ich auf meine geniale Idee gekommen. Wir hatten doch noch diese Farbe von der Renovierung im Keller, als Thomas ausgezogen ist und da…“
„Sibylle.“ Sein eiskalter Ton ließ sie verstummen. „Sibylle. Richter Steiner hat letzte Woche damit geprahlt, dass er sich von seinem gesamten Ersparten einen Lebenstraum erfüllt hat.“
Seine Stimme verebbte in einem Decrescendo. Die letzten Worte waren kaum noch hörbar. Ein Wispern. „Er hat ein Gemälde gekauft. Die japanische Brücke mit Seerosen. Ein echter Monet.“
Sibylle sah noch den Beton auf sich zurasen, dann wurde ihr das Gegenteil von Alpina Nordic White, nämlich rabenschwarz. Und zwar vor Augen.