Von Magdalena Knapp

Seit dreiundachtzig Jahren hänge ich nun schon hier an der Wohnzimmerwand, umrahmt von vergoldetem Messing, schnörkelig, fein und teuer. So bin ich eben, vornehm und elegant, mit einer glatten silbrigen Oberfläche, in der sich schon so manches gespiegelt hat. Ein Zeugnis zeitloser Qualität, mit dem die heutigen meiner Art nicht mehr mithalten können, denn ich bin ein Erbstück, das seit Generationen Familie Schubert hilft, Stil und Ehre zu wahren.

Als ich das Licht der Welt zum ersten Mal erblickt und reflektiert hatte, war Heidegund gerade zwei Jahre alt geworden. Familie Schubert zog in diese Wohnung und erwarb mich damals schon um teures Geld, also wohnte ich bei der jungen Familie im Wohnzimmer. Ich bin groß und schön und habe es fortan erfolgreich bewerkstelligt, dem gesamten Raum einen luxuriösen Glanz zu verleihen. Nachdem sie erwachsen geworden war, putzte mich Heidegund immer sonntags vor dem Kirchgang, und ihren roten Lippenstift, bei dem ich ihr besonders behilflich war, wenn sie mich konzentriert ansah, werde ich nie vergessen. Heidegund heiratete und bekam vier Töchter, die jüngste war Marie. Als Marie zwanzig war, erstickte Heidegund im Wohnzimmer an einem Zuckerstück, und in den darauffolgenden Jahren wünschte ich mir des Öfteren ihr Abbild herbei. Marie war oft auf Reisen, und die Wohnung wurde leerer und leiser. Die Waschungen meines anmutigen Spiegelglases entfielen immer öfter, bis ich nach drei Jahrzehnten in der dunklen, unbewohnten Wohnung vor Lichtentzug fast zerbrach.

Und dann kam ihr Junge in die Wohnung.

Beton hieß eigentlich Jürgen und trainierte wie besessen. Schon als er einzog, erkor er mich zu seinem besten Kumpan, indem er keuchend die schwere Hantelbank genau vor mir abstellte. Vor dem Training posierte er und fletschte die Zähne, während er mich anstarrte. Während dem Training beobachtete er mich angestrengt und nach dem Training stellte er sich in immer denselben drei Posen vor mir auf. Rücken, angespannt und muskulös. Seite, die Schulter nach unten gedrückt. Vorne, die Arme angewinkelt, mit erhobener Brust. Noch nie hatte jemand meine Spiegelkunst derart zu schätzen gewusst und ich gebe zu, ich liebte es.

Beton wollte seine Muskeln wachsen sehen, und das taten sie eine Zeit lang. Wenn er damit zufrieden war, gönnte er sich nach dem Training einen Proteinshake während er vor mir posierte. War er unzufrieden mit seinem Fortschritt, dann bedrohte er mich kurz mit erhobener Faust. Angst und bange wurde mir dabei schon lange nicht mehr, denn ich wusste, ohne mich konnte er nicht leben.

Während seine Muskelberge langsam wuchsen, war alles gut. Doch das ging nicht für immer so weiter, denn Betons Muskelwachstum erreichte ein gefährliches Plateau. Als er mich immer öfter nach dem Training bedrohte, stellte er sich eines Tages voll neuer Motivation nach dem Training aufrecht vor mich hin, und zeigte forsch mit dem Zeigefinger auf mich.

„Wehe, das funktioniert nicht“, drohte er mir unhöflich, als er eine Tablette mit seinem Proteinshake hinunterspülte, und mir dämmerte es. Er wollte sein Muskelwachstum künstlich verstärken.

In den darauffolgenden Monaten bedrohte er mich kein einziges Mal. Stattdessen wirkte er glücklich und zufrieden mit sich und seinem Körper. Seine Muskelberge wuchsen beständig, denn er nahm Dianabol und Halotestin. Sogar, als er zwei Wochen lang die Grippe hatte, wuchsen seine Muskeln. Er verdoppelte danach seine tägliche Kalorienaufnahme auf 6155 Kilokalorien und flüsterte mir das auch ständig zu, als er vor mir stand. Seine Muskeln vergrößerten sich fortan noch schneller, und irgendwann passte sein Kopf nicht mehr zu seinem Körper.

Da begann ich, mir Sorgen um Beton zu machen. Er sah jetzt aus wie Hulk, in dessen Hals man einen normalgroßen Menschenkörper mit normalgroßem Kopf hineingesteckt hatte. Als ich jung war, hatte ich nie solch einen Körper gesehen. Er war doppelt so breit geworden und seine Gesten wurden ungelenkig, da seine Muskeln einfach zu groß waren, um sich normal bewegen zu können.

Eines Tages kamen zwei seiner Fitness-Bros, wie er sie nannte, zu ihm in die Wohnung, und sie bauten dort gemeinsam neue Gerätschaften vor mir im Wohnzimmer auf, die alle dazu dienten, den schon stählernen Körper noch mehr zu stählen. Beton war der Schwerste und Breiteste und überragte die anderen zwei um einen Kopf. Sie schauten zu ihm auf und kamen einmal die Woche zu ihm, um sich gemeinschaftlich zu stählen. Wie Beton sahen auch sie mich fortwährend dabei an, und als Beton ihnen die Tabletten anbot, zögerten sie kaum.

„Keine Nebenwirkungen, gar nichts!“, versprach er seinen Fitness-Bros, doch hätte er mich gefragt, hätte ich ihm einige an ihm sichtbare unerwünschte Sekundäreffekte nennen können. In den folgenden Wochen wurden diese schlimmer, und als Beton mich immer noch zufrieden posierend anstarrte, konnte ich nur noch Mitleid mit ihm empfinden. Es trug sich zu, dass Beton des Öfteren aus dem Nichts zu Weinen anfing, und wenn das passierte als seine Kumpanen zugegen waren, dann trösteten sie ihn, selbst schuldbewusst ob der Mittelchen, die sie zusätzlich verwendeten. Wann immer das geschah, zogen sie anschließend gedankenverloren und etwas traurig von dannen, denn sie wussten, dass ihnen dieses Schicksal möglicherweise ebenfalls nicht erspart blieb.

Selbst bei mir stellte sich allmählich eine gewisse Tristesse ein. Beton fixierte sich noch mehr auf mich, und statt der Aufmerksamkeit, die mir anfangs genehm war, ergriff mich ein dauerhaftes Unwohlsein in seiner Gegenwart. Ich wollte ihn anschreien, und ihn schütteln, ihm zurufen, dass er mich endlich anschauen und erkennen sollte, dass es so nicht weitergehen konnte mit seinem verzweifelten Dasein. Dass seine Obsession höchstgradig ungesund geworden war, und kein Mensch mit seinem Spiegel so viel Zeit verbringen sollte, sofern er seine geistige und in diesem Fall auch seine körperliche Gesundheit wahren wollte, doch dafür war es längst zu spät.

Eines Abends versuchte Beton einen neuen persönlichen Rekord im Bankdrücken. Die Fitness-Bros hatten die Wohnung längst verlassen, doch er war verbissen. Hundertachtzig Kilogramm hatte er oft probiert, jedoch nie geschafft. Er platzierte seine Füße breitbeinig neben der Hantelbank, legte seinen enormen Rücken auf das schwarze Leder und drückte den Unterkörper hoch, um eine stabile Haltung anzunehmen. Die Hundertachtzigkilo-Hantel hatte er an der Ablage der Hantelbank vorbereitet. Mit beiden Händen fasste er um die metallene Stange, brüllte kurz und männlich, und mit einem Ruck hob er die schwere Langhantel aus der Ablage. Er keuchte, als er versuchte, die Hantel mit aller Kraft in die Luft zu stemmen. Sein Gesicht lief rot an, Betons Oberarme begannen zu zittern. Ich bekam Panik, konnte Beton jedoch nicht helfen, als seine Arme plötzlich nach unten sanken und die Stange der schweren Langhantel mittig auf seinem Hals zu liegen kam. Beton schnappte wild nach Luft und ich fürchtete schon, dass sich Heidegunds Schicksal auf eine seltsame Art wiederholen würde. Beton schrie verzweifelt auf und nahm sein letztes Quäntchen Leibeskraft zusammen, um die rechte Seite der Hantel nach oben zu kippen. Das Gewicht auf der linken Seite zog die Hantel nach unten, bis er es geschafft hatte, die Hantel mit einem lauten Krach fallen zu lassen. Mit hochrotem Kopf und erschrockenen Augen versuchte er, Luft in seine Lungen zu bekommen.

Als er wieder atmen konnte, kam Beton zu mir und blickte mich ängstlich an. Mir und auch ihm war klar, dass er gerade nur knapp dem Tod entronnen war. Er sagte nichts, doch ich sah es in seinen Augen, dieser Moment hatte etwas in ihm verändert. Je länger er mich anstarrte, desto mehr sah ich eine Wut in seinen Augen funkeln. Eine Wut auf ihn selbst, auf seinen Fanatismus und den Körperkult. Ich erschrak, als er das Fenster öffnete und rasend die eisernen Gewichtsscheiben eine nach der anderen hinauswarf, während sie klirrend zwei Stockwerke tiefer am Asphalt aufschlugen. Die letzte Fünfkilo-Scheibe traf nicht am Boden auf, ich vernahm nur das schmerzerfüllte Kreischen einer jungen Frau.

Zehn Minuten später hörte ich das herannahende Rettungsauto und zwanzig Minuten später musste ich hilflos mitansehen, wie Beton von zwei Polizisten abgeführt wurde. Sechs Monate lang fehlte mir jede menschliche Reflexion, und Staub trübte mein silbriges Äußeres.

Als Beton eines Tages die Wohnungstüre öffnete, war er nicht alleine. Eine junge Frau hinkte neben ihm in die Wohnung, während er sie stützte, und gemeinsam betrachteten sie das verlassene Gemach. Beim Niedersetzen auf die Hantelbank half er ihr mit liebevollem Blick. Dann kam Beton zu mir und posierte noch ein letztes Mal. Ich konnte gar nicht glauben, wie anders er jetzt aussah. Er war wieder zu einem normalbreiten Menschen geschrumpft, noch immer muskulös, doch nun mit natürlichen Proportionen.

Seit mehreren Monaten wohnen die beiden nun zusammen hier. Beton nennt sich jetzt Jürgen und ich finde, es passt.

 

Version 1, 8966 Zeichen