Von Marco A. Rauch

 

Im Laufe meines Lebens musste ich viel lernen. Die vielleicht wichtigste Lektion war, dass nichts wirklich Bestand hat. Das Leben ist im Wandel und bleibt selten gleich. Nur die Art, wie man reagiert, entscheidet, wohin der nächste Weg führt. So gesehen besteht das Leben nicht nur aus einem, sondern aus vielen verschiedenen Wegen, die man nacheinander geht. Es besteht aus Etappen. Doch woher weiß ich, ob ich mich gerade zwischen zwei Etappen ausruhe? Zugegeben, diese Sichtweise ist sehr philosophisch und wer sich mit diesem Bild nicht anfreunden kann, wird die eigenen Etappen vielleicht nicht erkennen. Aber wer einen Blick riskiert, kann Positives in dieser Art zu denken finden. Wer weiß schon, wofür dies oder jenes gut war? Oft zeigt sich das erst später, manchmal gar nicht. Am Ende jedoch hat Veränderung immer einen Sinn, wenn man ihn sehen will. Doch welchen Weg soll ich gehen, wo das Leben doch so unfassbar viele Wege bereithält?

Oft wählt man den Weg, der am vernünftigsten ist. Manchmal auch den Weg, der eine Mischung aus Vernunft und Bedürfnis darstellt. Aber manche Menschen entscheiden sich blindlings für das Bedürfnis und werfen jede Vernunft über Bord.

Als ich 16 war, dachte ich meine große Liebe gefunden zu haben. Es war harmonisch und reine Magie. Wenn ich sie ansah, war es, als würde die Zeit stillstehen. In ihren Augen sah ich stets etwas, das mich ruhig und gleichzeitig zuversichtlich gestimmt hat. Als würden sie mich auf eine spirituelle Weise in ihren Bann ziehen und nicht mehr hergeben. Ein tiefgehendes Gefühl inneren Friedens durchzog meinen Körper und nahm meinen Geist in Besitz. Wie eine ganzjährig blühende Blüte, die ihre Blätter nur für mich entfaltet hatte. Wir durchlebten eine Zeit der vollkommenen Glückseligkeit, bis ich aus einer Laune heraus die Entscheidung traf, mit ihr Schluss zu machen. Was war passiert? Ich war 16, hatte zu viel getrunken und eine schlechte Phase. Dachte, ich wäre nicht gut genug für sie. Da war es aus und die Blüte verschloss für immer ihre Blätter vor mir. Später dachte ich, es war das Unvernünftigste, das ich je getan habe. Auch viele Jahre danach habe ich diese Entscheidung wieder und wieder bereut. Doch das Leben geht weiter, neue Etappen kommen und durch die Schule des Lebens ändert sich die Sichtweise.

Vor Kurzem sah ich sie bei Günther Jauch in der Sendung Wer wird Millionär?. Durch Zufall schaltete ich das Programm ein und erfuhr, die Blüte hatte geheiratet und zwei Kinder. Sie wirkte glücklich und strahlte und blühte in einer nie gekannten Farbenpracht. Wer weiß, vielleicht war meine Entscheidung wichtig für ihre Entwicklung? Vielleicht war unser gemeinsamer Weg nur eine Etappe, die einem höheren Zweck diente. Vielleicht blühte sie damals für mich, um zu lernen, wie sie ihre volle Farbenpracht erlangen konnte. Ich finde den Gedanken tröstlich, nichts passiert ohne Grund.

Mit 25 fuhr ich betrunken Auto, wurde von der Polizei angehalten und musste meinen Führerschein abgeben. Zum Glück blieb mir die MPU erspart. Damals verfluchte ich die Polizei, doch heute weiß ich, es war gut so. Ich hätte mich sonst nicht geändert, hätte einfach weitergemacht. So bekommt diese Erfahrung einen positiven Sinn.

Mit 30 habe ich meine Freundin geheiratet. Wir waren bis über die Kragenspitzen verliebt und schworen uns den heiligen Schwur, der aus Worten besteht, aber viel mehr beinhaltet, als man auf den ersten Blick zu erkennen vermag.

Die Jahre vergingen, zwei Kinder wurden geboren und wuchsen heran. Wir waren glücklich als Familie vereint und jeder wird verstehen, wenn ich sage, Familie ist das Wichtigste auf der Welt.

Als unser Ältester 12 Jahre alt wurde, genau an seinem Geburtstag, es war ein Dienstag, kam er nicht nach Hause zurück. Ich war auf Arbeit und meine Frau wartete zuhause. Irgendwann stand die Polizei vor der Tür und brachte die Nachricht über das Ende eines Weges. Die Nachricht über den Abschluss einer letzten Etappe.

Manche Menschen entscheiden sich blindlings für das Bedürfnis und werfen jede Vernunft über Bord. Erinnern Sie sich?

Ich zog los und tat, was getan werden musste. Denn manchmal muss man einem anderen Menschen zeigen, dass sein Weg der falsche ist. Manchmal ist es richtig, alle Vernunft über Bord zu werfen. Ein Betrunkener hatte gedacht, er könne sein Auto sicher führen. Ein tödlicher Fehler. Durch einen Zeugen bekam ich seinen Namen heraus. Heute ist der letzte Tag meiner Gerichtsverhandlung, die Staatsanwaltschaft plädierte auf vorsätzliche Tötung und Sachbeschädigung. Aber wissen Sie was? Ich habe getan, was getan werden musste, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. War es das Unvernünftigste, das ich jemals getan habe? Kommt darauf an, wer bewertet.

Das Leben besteht aus Etappen und ist ständig im Wandel. Nur die Art, wie wir reagieren, bestimmt den weiteren Weg. Am Ende muss jeder selbst herausfinden, ob er sich im Spiegel ansehen kann.

Ich bin sicher, der Trunkenbold wird neue Reifen finden und seine Tochter eine neue Katze. Nicht auszudenken, wenn er unseren Sohn und nicht den Hund erwischt hätte.

 

 

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