Von Hans-Günter Falter

Kaum machte ich meine Augen auf, erschienen bunte Spiegel, die meine Gedanken und Träume in gleißendem Licht, gleichwohl sanft auf die Wirklichkeit projizierten.
Viel nachdenken musste ich nicht. Ich notierte die Eindrücke in meinen Gedanken, bewegte sie in meinem Herzen und formte daraus meine eigene Realität.
Du könntest es Traumwelt nennen. Es war mir allerdings jederzeit klar, dass ich mich nur bis zu einem bestimmten Punkt fallen lassen würde. Ich lebte nicht in dieser sonderbaren Welt. Ich war ihr Beobachter. Ihr Biograf.
Und ich veränderte, beeinflusste dieses geschaffene Kaleidoskop!
In Grenzen!
Aber immerhin!

Gleichzeitig Publikum und Darsteller, Erzähler und Zuhörer. Dieses phantastische Gebilde faszinierte mich. Es lag in meiner Hand, wie es sich weiterentwickeln würde.

Die Zwischenwelt, wenn der Traum kurz vorm Erwachen die Wirklichkeit behutsam berührt. Wenn der Radiowecker dich mit seiner sanft anschwellenden und wieder verklingenden Melodie für einen winzigen Bruchteil wieder in den Traum zurück schweben lässt, bevor er dich endgültig aus ihm hinauszieht.
Wenn beide Welten durch ein imaginäres Band verbunden sind.
Wenn dieser winzige Augenblick dich zweifeln lässt, ob du träumst oder wach bist.
Wenn du schon einen Funken der Idee hast, dass die Nacht zu Ende ist und die Wirklichkeit dich erwartet. 

Der Alltag.
Die Verpflichtungen.
Die Gewohnheiten.

Dieser magische Moment, der nach kurzem, aussichtslosem Ringen zerfließt und dich in die Realität schubst. Dieser Augenblick, den ich jedes Mal aufs Neue festhalten möchte und der doch so vergänglich ist und entgleitet wie der Morgennebel.


*


Aufstehen.
Fünf Uhr morgens.
Den inneren Widerstand überwinden.
Ins kalte Bad gehen. 

Zähne putzen.
Als Erstes.
Immer die Zähne putzen, vor allem anderen, das macht ein gutes Gefühl. Irgendwie ordentlich, so von der Empfindung her. Rein in die alten Klamotten, warm muss es sein. Hauptsache warm.
Raus in die Ställe, die Tiere versorgen. Wasser auffüllen, Körner für die Hühner und die Laufenten. Die Schafe auf die Weide lassen.
Ausmisten.
Mein Hund und die Katzen warten auch schon.
Zwei Stunden beschäftigt. 

Wieder zurück ins Bad, endlich duschen!
Schön warm und lange duschen!
Das tut gut!
Hauptsache die Zähne sind geputzt. Hab ich das heute morgen vergessen? Wahrscheinlich nicht, es ist doch so wichtig! 

Zur Sicherheit nochmal!
Wird wohl nicht schaden!
Dann kommt das gute Gefühl zurück!
Oder auch nicht! Zähneputzen ist nicht alles!

Ist sie schon wach?
Versuche mich morgens aus dem Bett zu stehlen. Will sie nicht stören. Sie dreht sich meist um, wenn ich aufstehe. Auch so ein Ritual! Vielleicht erlebt sie gerade diesen magischen Moment!
Ihr Traum verbindet sich mit meinem Aufstehen.
Die leichte Bewegung der Matratze wird Teil ihres Traumes. Hoffe ich jedenfalls!
Will ihr diese Zeit gönnen und sie auf gar keinen Fall aufwecken. Ihr nicht diesen Augenblick stehlen, der unersetzlich und kostbar ist. Das wäre Frevel!
Ich liebe sie!
Möchte ihr alles geben!
Alles intensiv mit ihr erleben!
Ihr die Magie schenken, die sie verdient!
Einfach, weil sie da ist!

*

„Blaue Musik mag ich am liebsten“, sagte ich zu meinem besten Freund. Da war ich elf oder zwölf Jahre alt.
Er schaute mich an und antwortete: „Du meinst Blues, oder?“ Und ich entgegnete: „Quatsch, Blues ist doch eher orange!“
Da schaute er irritiert von der Seite, sagte aber nichts!
Ich spürte seinen Blick auf mir, sagte auch nichts! Fühlte mich seltsam berührt und ertappt. Wusste nicht warum, hatte doch nur spontan eine ganz normale Empfindung mitgeteilt.

Damals kam zum ersten Mal der Gedanke in mir auf, dass womöglich nicht alle Menschen Farben sehen, wenn sie Musik hören. Zumindest nicht die gleichen Farben wie ich!
Ich dachte darüber nach, wie das wohl funktioniert, mit den Farben und mit der Musik und überhaupt. Wie wäre es, mit den Ohren eines anderen zu hören?
Und sieht die Welt für alle Menschen gleich aus? Wie wäre es, mit den Augen eines anderen zu sehen? Wären die Äpfel blau und meine Zähne grün? Und hätten wir uns nur darauf geeinigt, dass bestimmt Gegenstände einer Farbbezeichnung zugeordnet wären, die aber ganz individuell wahrgenommen und von unserem Gehirn verarbeitet wird? Eine Antwort konnte ich nicht finden! Aber ich habe eine Vermutung!

Und ich begriff etwas! Gefühle hatten offenbar die meisten Menschen beim Musikhören, aber konkrete Farben nahm keiner meiner Freunde wahr! Oder sie sprachen nicht darüber! Ich war verunsichert!
Über dieses Thema redete ich nicht mehr, beschäftigte mich nur gelegentlich damit. Es schien mir eine unbedeutende Einschränkung, so wie „Rot-Grün-Blind“; eine Besonderheit, die im Alltag nicht weiter auffällt. Damit musste ich wohl leben! Nicht erwähnenswert. Im Gegenteil, wirkt auf Andere womöglich seltsam und schrullig!

Ich höre gerne und viel Musik, versuche Strukturen zu finden, Regelmäßigkeiten zu entdecken. Mich dem Gefühl hinzugeben. Und ich liebe fließende Improvisationen, die mitreißen und inspirieren.

Nichts bringt mich mehr in Wallung als weichgespülte „Beruhigungsmusik“, die keine Struktur hat und dem Geist keinerlei Möglichkeit gibt sich einzuhaken.
Grau und verwässert!

*

Zusammen mit ihr sitze ich auf dem Sofa, habe gerade eine alte Schallplatte aufgelegt. „Lucy in the Sky with Diamonds“ tönt aus den Lautsprechern.
Da sagt sie, etwas zögerlich und mit unsicherer Stimme: „Hab ich dir schon mal erzählt, dass ich Gerüche wahrnehme, wenn ich Musik höre?“
„Was? Nein, sowas hab ich noch nie gehört!“
„Bei mir ist das aber so, die Musik verbindet sich mit Erinnerungen an Gerüche. Gerade eben, bei diesem Lied, ist es besonders intensiv!
Es hat etwas vom Nivea-Geruch aus meiner Kinderzeit und es riecht auch nach Bleistiften und Schulmäppchen und einem Hauch von Frühlingsblumen!“
„Wahnsinn!“, sage ich, lache und schweige. Das kommt mir nun doch etwas seltsam und schrullig vor!
„Ich frage mich, was die Beatles wohl empfunden haben, als sie diesen Song geschrieben und aufgenommen haben?“, sagt sie nach einer Weile und fährt fort: „Der Text spiegelt sich in der Musik, verschmilzt mit ihr, wie bunte Spiegel, die meine Gedanken und Träume in gleißendem Licht, aber sanft auf die Wirklichkeit projizieren!“
Mir stockt der Atem. Etwas verbindet mich schlagartig noch intensiver mit ihr. Obwohl ich dachte, das wäre nicht möglich.
Ein neuer Horizont tut sich auf! Unsichtbare Grenzen verschwinden!

Eine blaue Leere füllt sich gemächlich mit dem Hunger nach Tönen. Schwindel treibt mich sanft voran, erfüllt die Zeit mit Geborgenheit und Zuversicht.
Zuversicht in allen Aggregatzuständen.
Leise tönt der Donner in der Ferne, macht mir ein Grummeln im Bauch, färbt meinen Blick in weichen Regenbogenfarben. Mein Gefühl verbindet sich unauflöslich mit diesem wunderbaren Wesen. In meinem Kopf entsteht ein neuer Raum und gebärt ein wohliges Brausen.

„Ich glaube ich muss dir auch etwas gestehen!“, sage ich und gleite in einen Ozean aus bunten Farben! Versinke in einem die Sinne betörenden Kaleidoskop … und schmecke den Duft aus Zirkusmanege und Zuckerwatte!

 

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