Von Maria Lehner

Dass ich selbst ein deutlich lesbares lebendiges Rufzeichen sei, sagt einer meiner Kritiker trocken. Die Lektorin gibt ihm recht und streicht da und dort Zeichen weg, nicht nur Rufzeichen. Ein guter Freund murmelt etwas vom anhaltenden pubertären Gefühlsüberschwang. Ich fühle mich wie ein Leerschritt. Nachdem ich ein paar Seiten lang meine mit dem Füllhorn über dem Text ausgeschütteten Satzzeichen gezählt habe, verstehe ich, was der Kritiker mit inflationärer Nutzung meint. Alle meine im Überschwang gesetzten Doppelpunkte, Strichpunkte, Gedankenstriche, Rufzeichen, Fragezeichen, Fragenzeichen-Rufzeichen-Paare stehen vor meinem Auge, gefolgt vom comicstripmäßigen Woooow mit dem vierfach-O, auf dem ich durch die Welt galoppiere. Ich verordne mir eine Schreibpause und stattdessen das Lesen eines Buches. Ich werde dabei auf die Satzzeichen achten und schauen, wie der Autor das macht.

Meine Begeisterungsfähigkeit fegt alle Vorsätze hinweg. Beim Lesen, beim Schreiben, im Leben bin ich großzügig und wenig konsequent. Gerade eben scheint ein Buch in meiner Tasche zu vibrieren, als könne es nicht mehr erwarten, dass ich es in die Hand nehme. Nur das Buch und ich heute Nacht. Das Nötigste kaufe ich ein, stelle das Mobiltelefon in den Flugmodus, der Katze fülle ich die Futterschüssel und stelle ihr Wasser hin.

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Schon auf Seite zwölf bin ist starr vor Aufmerksamkeit. Einmal habe ich den Eindruck, festgezurrt zu sein, dann wieder, gleich ins All katapultiert zu werden. Woooow, diese Handlung. Meine Augen jagen die Zeilen entlang und bald kann ich nicht sagen, wo das Buch aufhört und wo ich anfange. Schließlich steht vor mir dieser eine Satz, der vor mir aufragt als eine Sprungschanze, auf der ich beschleunige, abhebe und schließlich als Rufzeichen irgendwo mitten im Text lande. Woooow mit vierfach-O hatte ich kurz vor dem Absprung noch gedacht. Ich bin Teil des Buches. Aber leider nicht als handelnde Figur, sondern materialisiert als Rufzeichen.

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Es ist, als würde ich von fernher diesen seltsamen Laut der Katze hören, für den ich bislang keinen Namen gehabt hatte, bis ich im Netz eine Ekekek sound Compilation entdeckte. Der aufgeregte, weltentrückte Kecker-Laut, den sie von sich gibt, wenn nur durch die Fensterscheibe getrennt, ein Vogel vor ihr auf und ab marschiert, was sie überfordert. Sie muss sich gewundert haben, wo ich hin bin.

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Nach meinem fulminanten Start und dem Flug, auf dem ich mich ganz schmal mache, um die Aerodynamik auszunutzen, schwebe ich leicht und ätherisch in den Text hinein, als ein elegantes Ausrufezeichen der Schriftart Calibri. Für die Reise ins Buch habe ich das beste Transportmittel gewählt. Da bin ich. Leider merke ich mir die Zahl der Seite nicht.

Nun bin ich Teil des Buches, kann mir das alles von der anderen Seite ansehen – habe ich geglaubt. Aber sie merken gleich, dass ich nicht dazugehöre, denn handelnde Personen sehen anders aus. Wie ein Kind, das mit fremden Kindern mitspielen will, dränge ich mich hierhin und dahin. Da wäre ein Satz, dem man mit mir als Rufzeichen Nachdruck verleihen könnte. Aber die Buchstaben zischeln: Rufzeichen gängeln die Lesenden, sind kleine strammstehende Soldaten, die befehlen, man solle denken, was einem gesagt würde. Die Leser würden gern selbst entscheiden, was sie bemerkenswert finden. Außerdem: Calibri Völlig out. Hier trägt man Book Antiqua.

Das sei ein literarischer Text, der keinen totalitären Sprachgestus vertrage sagt eine ganz gescheite Figur. Oder ob ich von Trump geschickt sei. Die Frage treibt mir die Schamesröte in den Punkt. Einmal versuche ich es noch bei einem spanischen Satz am Satzanfang: Was, wenn ich mich einfach umdrehe? Nein, das ist ein deutschsprachiger Text und auch die Satzzeichen werden entsprechend gesetzt. Damit Basta. Das Basta würde auch ein Rufzeichen vertragen, will ich sagen, aber man hat mich hinweggefegt und ein paar Absätze unten rapple ich mich, leicht lädiert, auf.

Teil des Buches zu sein, ist ganz und gar unangenehm. Die Figuren, näher besehen, wollen sich alle ausbreiten und beanspruchen Platz, da wird es eng und festgelegt. Dann wieder ragen Spalten und Abgründe auf. Als Leser merkt man das alles nicht, da schließt man die kleinen Leerstellen in der Handlung durch die Kraft seiner Fantasie. Ich, das Rufzeichen, möchte warnen – der Strichpunkt zieht den Mund hinunter zu einer verächtlichen Geste. Oder ich möchte, wie die mittelalterlichen Mönche es taten, in deren Texten das Rufzeichen entstanden ist ein großes „Io“ schreien, vor Freude jubeln, so laut, bis das „lo“ zu einem Rufzeichen zusammenwächst.

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Auf Seite zweihundertvierzehn habe ich nur mehr das Gefühl, dass ich raus will. Dazu würde ich mich schmal machen wie ein Hochpunkt. Überhaupt schwöre ich, von nun an jedes Mal den Text behutsam zu befragen, ob er denn das eine oder andere Zeichen brauche, ob ich die Sätze theatralisch aufbauschen muss. Ich muss meinen eigenen Worten keinen Tusch hinterherschicken. Vielleicht kann ich das mit anderen Stilmitteln erreichen.

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Aber dem Buch sind meine Beteuerungen egal. Auf Seite fünfhundertdreizehn höre ich wie von fernher die typischen Futter-her-aber-dalli-Miau-Töne meiner Katze. Und ich bin doch ganz in ihrer Nähe, habe mich nur verlaufen

Verlaufen… plötzlich erinnere ich mich, dass ich es anstellen könnte wie beim Wandern: Ruhig bleiben, nicht in Panik geraten. Stehenbleiben und die Umgebung anschauen. Sich drehen. Zurück ist der Weg schwieriger. Die Wörter von hinten nach vorn lesen. Das Geschehen wie einen zurückgespulten Film wahrnehmen. An eine unsichtbare Wand stoßen und nicht weiterkommen. Aber da ist die Stelle, die mir bekannt vorkommt, ich setze zum Sprung an, hebe ab.

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Die Stelle ist die richtige, der Moment ist ungünstig: Die Katze stromert auf Futtersuche herum und wirft dabei das Buch zu Boden. Ich falle, immer noch bin ich ein Rufzeichen, zwischen den Buchdeckeln heraus. Da sind ihre großen Augen und ihre rosa Zun-

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