Von Martina Zimmermann

 

Wie schön die Natur ist. Lächelnd streife ich durch die Wälder. Ich sehe den Sonnenschein immer nur in Bruchstücken, wenn er durch die Blätter der Bäume hindurch strahlt.

Ganz leicht berührt er mich. Ich kann ihn sehen, doch spüre ich kaum die Wärme.

Zu zart und leicht sind die Strahlen. Die Wärme dringt hier in diesem dichten Wald nicht zu mir vor.

Auf einem schmalen Waldweg setze ich meinen Spaziergang fort. Einen Fuß vor dem anderen.

In Gedanken sehe ich meine kleinen Füße, die ich als Kind hatte. Ich weiß noch genau, wie es mir immer Spaß gemacht hatte im Wald, der direkt hinter unserem Haus lag, meine Zeit zu verbringen. Die Waldwege waren meine Straßen und ich lebte in einer eigenen erschaffenen kleinen Welt. Genau wie einst versuche ich meine Füße in das Laub zu graben, die Fußspitzen beim Laufen unterzutauchen. Damals war es leichter. „Warum wackel ich so? Warum ist alles so beschwerlich geworden?“ Mir fällt es schwer, mein Gleichgewicht zu halten. Mit Mühe kann ich verhindern, nicht zu stürzen. „Puh meine Kräfte, wo sind sie hin? Ich kann mich nicht erinnern. Warum bin ich so wackelig? Strotzte ich nicht gestern noch voller Kraft und Übermut?“

Dann fällt mir wieder ein, wie meine Mutter mich tadelte. „Du wirst noch eines Tages auf die Nase fallen“, hatte sie mir mit einem Lächeln und erhobenen Fingerzeig gesagt. Ich wusste, sie meinte meine forsche Art und das auf die Nase fallen nicht wörtlich. Aber genau das fällt mir jetzt ein.

„Wo ist sie eigentlich? Ach egal, ich setze meinen Spaziergang fort.“

 

Die Sonne verschwindet. Warum? Es wird dunkler und abgründig und so langsam wird mir komisch.

Ich spüre meine Angst, sie kriecht in mir hoch. Ich versuche sie zu unterdrücken, aber ich merke, wie sie mich daran hindert zu atmen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich kann nicht mehr denken.

Wackelig setze ich meinen Weg fort. Einen Fuß vor dem andern, langsam. Weiter immer weiter.

Ich weiß nicht, wie lange durch den Wald gelaufen bin, als ich plötzlich vor einer Wiese stehe.

Sie ist so grün und die Kühe darauf genießen sichtbar das frische Gras. Sofort denke ich daran, wie unsere Tiere immer weideten, nicht weit von unserem Hof. Manchmal half ich beim Melken.

Ich kann mich noch so gut erinnern. Wie die frische Milch schmeckte. Bei dem Gedanken spüre ich meine trockene Kehle. Als wenn ich Staub gegessen hätte. Langsam trete ich heraus aus dem Schatten der Bäume. Ich nähere mich den weiblichen Rindern und sie sehen mich fragend an, aber ich scheine nicht zu stören und eine Kuh kommt zu mir an den Zaun.

Mit der zitternden Hand berühre ich ihren Kopf. Sie ist so weich. Ihr kurzes Fell fühlt sich flauschig an und in diesem Moment ist wieder alles vertraut. Genau wie früher, als ich alle Kühe der Reihe nach streichelte, während sie im Stall standen. Ich wusste, sie mochten es gerne, wenn ich ihren Kopf kraulte. Mein Vater bestätigte, dass sie es genießen würden.

„Du bist schon eine Verrückte“, hatte er aus vollem Hals gelacht.

„Wo ist Vater eigentlich?“

Schlagartig kommt es zurück, dieses Gefühl der Ohnmacht. Diese kriechende Angst in mir.

Schnell streichel ich die Kuh weiter, das vermittelt mir ein gutes Gefühl. Ich spreche mit ihr und sie scheint mir zuzuhören. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon stehe. Plötzlich wird mir so komisch meine Kräfte schwinden und mir wird schwindelig. Dann wird alles schwarz …

 

„Hallo, Hallo“, ruft jemand und ich spüre, wie meine Wange getätschelt wird.

Ganz vorsichtig öffne ich meine Augen und sehe in ein freundliches Gesicht. Ein netter Mann steht über mich gebeugt und lächelt mich an.

„Wo bin ich? Was ist passiert?“, frage ich. „Ich habe sie gerade gefunden, sie lagen hier an meiner Wiese und waren ohnmächtig“, erklärt der Mann.

„Können sie aufstehen? Tut ihnen etwas weh?“, fragt der Mann. Ich versuche in meinen Körper zu fühlen. „Ich glaube, mir tut nichts weh“, sage ich. „Dann helfe ich ihnen auf die Beine und wir fahren zu meinem Hof. Dort sehen wir weiter.“ „Hof?“, frage ich. „Ja, gleich dahinten. Ich bin der Bauer hier und wollte die Kühe melken, dabei habe ich sie gefunden.“

 

Der Mann besitzt Kraft und schnell gelingt es ihm, mir auf die Füße zu helfen. Mir ist noch etwas schwindelig, aber dann stehe ich wieder sicher. An seinem Arm geleitet er mich zu seinem Auto. Er hilft mir einzusteigen und dann fahren wir los. Nach kurzer Zeit erreichen wir den Hof. Ich spüre sofort dieses alte Gefühl von früher, diese Vertrautheit.

Hühner laufen frei herum und ein Hund begrüßt uns mit lautem Gebell. „Wie schön, denke ich,“ und strahle vor mich hin. „Kommen sie mit in die Küche“, bittet mich der Bauer und bietet mir zeitgleich seinen starken Arm. Ich ergreife ihn und er gibt mir Sicherheit.

Ganz langsam schreiten wir auf das Haus zu. Nachdem wir durch die Tenne gelaufen waren, betreten wir die große Küche.

Hier sehe ich eine Frau, die uns mit fragendem Gesicht begrüßt.

„Ich habe sie bewusstlos am Zaun bei den Kühen gefunden“, erklärt der Bauer.

Die Frau macht einen Schritt auf mich zu, um mich zu begrüßen und mich zu stützen.

„Setzten sie sich bitte.“ Sie hilft mir auf einen Stuhl und holt sofort ein Glas Wasser. „Trinken sie, das wird ihnen guttun“, erklärt sie.

Gierig trinke ich das Wasser. Jetzt kommt die Erinnerung zurück, ich hatte so eine trockenen Kehle.

Wann hatte ich das Letzte getrunken?“, frage ich mich jetzt.

Die nette Frau setzt sich zu mir. Sie war so ruhig und lächelt mich an.

„Erzählen sie doch einmal, wer sie sind“, sagt sie. „Ich heiße Mia Bäumer. Sie sind hier bei uns auf dem Hof und das ist mein Mann Günter.“

„Ich heiße Erika“, sage ich. Erika Schulze Könning.“

„Oh, Schulze Könning? Früher gab es einen Bauernhof, hier in der Nähe mit dem Namen.

„Genau!“ Alles fällt mir wieder ein. „Ich wollte dahin zurück zu dem Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe. Es war so schön dort. Ich muss mich verlaufen haben.“

„Wo wohnen sie denn?“, fragt Mia. Plötzlich verschwindet das Lächeln auf meinem Gesicht.

„Ich weiß es nicht“, sage ich verzweifelt. „Oh, nein, was machen wir denn jetzt?“, frage ich völlig aufgelöst. Meine Tränen steigen hoch und langsam quellen sie über die Ränder der Lider und kullern über meine Wange. „Beruhigen sie sich, wir werden schon herausfinden, woher sie kommen. Vielleicht schauen wir einmal in ihre Taschen. Es könnte sein, dass wir einen Hinweis finden“, vermutet Mia. „Darf ich?“, fragt Mia, und dann steckt sie ihre Hände in meine Taschen. Meine Jacke hatte ich offen getragen und eigentlich ist mir nicht einmal bewusst gewesen, dass ich sie anhatte. Wie eigenartig denke ich noch, als Mia einen Zettel, der eingeschweißt ist, in eine Art Folie aus meiner Tasche zieht.

„Was haben wir denn hier?“, sagt Mia und schaut darauf. „Da steht ihr Name und die Adresse so wie eine Telefonnummer. Dann wissen wir jetzt, wohin sie gehören. Sie wohnen in der Seniorenresidenz Johannes, ein Paar Kilometer von hier entfernt. Dann haben sie aber einen netten Marsch hinter sich“, stellt sie lächelnd fest. „Kein Wunder, dass ihnen schlecht wurde bei der Wärme, ohne Trinken. Gut, dass mein Mann sie gefunden hat. Ich rufe sofort dort an und gebe Bescheid. Sicherlich werden sie schon vermisst.“

Ich nicke. „Seniorenresidenz Johannes“ rede ich vor mich hin, ohne ein Bild passend dazu vor Augen zu haben. „Gleich werden sie abgeholt“, erklärt Mia. Sie wurden schon vermisst und man hat schon nach ihnen gesucht. Bis dahin könnten wir eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen zusammen essen. Wie wäre das?“ Ich strahle sie an. „Das wäre schön“, antworte ich, und jetzt merke ich auch, wie hungrig ich bin. Mia kocht schnell den Kaffee und dann deckt sie den Tisch. Ihr frisch gebackener Apfelkuchen schmeckt so gut. Wie im siebten Himmel fühle ich mich jetzt. Es geht mir gut und als sich dann die Tür öffnet und ich Petra sehe, da war mir auch wieder klar, wohin ich gehöre. „Was machst du denn für Sachen?“, fragt sie und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen. Petra ist der gute Geist des Hauses und ich liebe sie. Sie kümmert sich rührend um alle. „Wolltest du wieder einmal auf euren alten Hof?“, fragt sie mich. Ich nicke.

„Das wollte ich wohl, aber ich habe mich verlaufen“, sage ich.

Petra lächelt mich an. Sie hält mir ihre Hände entgegen und ich ergreife sie. Dann stehe ich auf und gehe mit ihr nach draußen. „Komm, wir fahren jetzt nach Hause“, sagt sie, und ich steige ins Auto.

„Danke für alles“, rufe ich noch aus dem offenen Fenster und dann winke ich Mia zu, während wir den Hof verlassen.

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