Von Franck Sezelli

 

»Lukas, komm mal bitte!«, ruft Mama aus der Küche. Und gleich danach noch einmal, schon ungeduldiger: »Lukas, komm mal! Hilf mal der Mama!«

Was ist denn nun schon wieder? Nie kann ich in Ruhe spielen. Die Autos stehen doch fast alle noch so rum, ich muss sie noch ordentlich in die Schlange einreihen. Ich kann doch nicht alles so stehen und liegen lassen, bloß weil Mama das so plötzlich einfällt.

»Lukas, Lukas! Hörst du denn nicht? Du sollst zu mir kommen, wenn ich rufe!« Mamas Stimme klingt ein bisschen laut. Da gehe ich mal lieber.

»Was ist?« Ich sehe Mama am Herd stehen und in einem Topf rühren.

»Du kannst mal anfangen, den Tisch zu decken. Das Essen ist bald fertig und du bist doch schon ein großer Junge, der seiner Mama helfen kann. Papa wird auch gleich kommen. Dort auf dem Schrank habe ich schon das Geschirr herausgestellt.«

Na gut, da schaffe ich halt die Teller ins Wohnzimmer. Da fliegt vor der offenen Terrassentür ein großer Schatten vorbei. Ob das der schöne bunte Vogel ist, den wir hier schon oft beobachtet haben? Eichelhäher heißt der, glaube ich. Ich schaue nach links.

Mist, da stolpere ich und falle hin. Die Teller fliegen mir aus der Hand und krachen auf den Boden. Es klirrt schrecklich, ein Haufen Scherben liegt da und dazwischen ein Teller, der heil geblieben ist.

»Was ist da los?«, ruft es aus der Küche. »Was hast du da angestellt?«

Die Mutter kommt zur Stube herein und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Oh je! Was bist du nur für ein Trampel. Kannst du nicht einmal ein paar Teller tragen?«

Ich merke, wie mir die Tränen kommen. Ich habe das doch nicht mit Absicht gemacht. Hätte sie mich fertig spielen lassen, wären die Autos aus dem Weg geräumt gewesen. So musste ich ja drüber fallen.

»Das gute Geschirr! Wie soll ich das Madame Duval erklären? Verschwinde jetzt hier! Du bist ja zu nichts zu gebrauchen!«

Das ist so etwas von ungerecht! Madame Duval hat mich ja gern, sie wird da nicht schimpfen. Wir sind im Urlaub ja immer hier in diesem französischen Dorf im Gebirge und Madame Duval ist immer lieb zu mir gewesen.

»Das sage ich Papa, wie böse du zu mir bist«, rufe ich meiner Mutter zu und stürme aus dem Haus.

Ich glaube, Papa wollte zu unserem Freund, zu Onkel Sébastien, zu den Schafen gehen. Auch Onkel Sébastien ist immer lieb zu mir, wie auch die Bäckersfrau und die Verkäuferin im Lebensmittelladen. Eigentlich alle im Dorf. Auch wenn ich nur wenig verstehe, was sie sagen, weil sie hier in Bonac natürlich alle französisch sprechen. Aber einkaufen kann ich. Von wegen, ich bin zu nichts nütze. Das sage ich dem Papa. Ich will zu ihm …

Hier diesen Waldweg muss es hineingehen. Ich war mit Papa ja schon mehrmals bei den Schafen. Einmal hat mich Onkel Sébastien allein mitgenommen und ich durfte seine Schafe hüten. Mit seinen Hunden natürlich. Aber ich glaube, da war er mit seinen Schafen an einer anderen Stelle.

Jetzt geht es erst einmal hier entlang. Der Weg steigt etwas an und wird schmaler. Es ist, als wenn die Tannen rechts und links immer näher rücken. Ich muss mich beeilen, um Papa noch bei den Schafen zu erreichen. Nicht, dass er einen anderen Weg nach Hause, ich meine in unsere Urlaubswohnung, zurückgeht. Ich weiß gar nicht, ob es einen anderen Weg gibt. Schneller, schneller. Mist, so eine blöde Wurzel, habe ich gar nicht gesehen und mir nun das Knie aufgeschlagen. Es blutet, aber tut nicht sehr weh. Papa wird sich freuen, wenn ich ihn extra abhole. Der Weg macht so einen seltsamen Knick, links eine Felswand, rechts dichter Tannenwald. War ich schon einmal hier? Ist das nicht der richtige Weg? Nein, das muss er sein! Im Dorf bin ich doch richtig abgebogen und auf dem Waldweg ging es nirgends woanders hin.

War es keine gute Idee, alleine loszurennen? Aber Mama war doch so böse zu mir. Ich möchte zu Papa …

 

***

 

»Hallo, Liebes, ich bin zurück. Oh, das riecht ja gut. Was gibt es zum Abendessen?«

»Tobias, schön, dass du da bist, das Essen ist gleich fertig. Hast du Lukas mitgebracht?«

»Wieso Lukas mitgebracht? Der Junge war doch hier, ist nicht mit mir gegangen.«

»Lukas wollte zu dir. Ich war wohl etwas ungehalten zu ihm, habe ihn ausgeschimpft. Da ist er weggerannt und wollte zu dir, sich über mich beschweren.«

»Bei mir war er nicht. Ich war bei Sébastien, bei den Schafen. Was hat Lukas denn angestellt?«

»Zwei dieser schönen Teller sind ihm runtergefallen und zu Bruch gegangen.«

»Da hast du geschimpft? So etwas passiert halt. Da kaufen wir halt neue für Madame Duval. Wenn man vermietet, muss man mit solchen kleinen Schäden rechnen.«

»Ja, ich weiß, ich habe vor Schreck zu heftig reagiert, war etwas grob zu unserem Kleinen. Aber wo ist er bloß?«

»Er wird wohl bald zurückkommen, wenn er mich nicht antrifft. Schließlich kennt er sich doch schon hier aus. Außerdem wird es bald dunkel.«

»Das ist es ja, es wird bald dunkel. Nicht, dass er sich verlaufen hat …«

»Weißt du was? Ich gehe nochmal los, zu Sébastien. Unterwegs finde ich ihn bestimmt oder bei Sébastien. Er ist ja wie ein guter Freund für ihn.«

 

***

 

Ich müsste schon lange bei den Schafen sein und bei Papa. Aber der Weg sieht so unheimlich aus und ist so lang, wie er nie war. Dummerweise sehe ich fast gar nichts mehr, es ist schon dunkel geworden. Ist es denn schon Nacht? Oder ist es der Wald, der alles so dunkel macht? Ich setze mich dort mal auf den Baumstamm und ruhe mich aus. Meine Füße tun mir schon ein bisschen weh. Bin ich schon so lange gelaufen?

Da, es knackt ganz unheimlich. Dort in der anderen Richtung noch einmal. Eine schwarze Gestalt schleicht sich von links an. Sie will mich packen. Ich springe auf und renne davon. Aua, mein Fuß! Er ist gegen einen Stein gestoßen, beinahe wäre ich hingefallen. Da hätte mich der schwarze Mann gekriegt.

Dort – eine Lücke zwischen den dicht stehenden Bäumen, da verstecke ich mich.

Was soll ich machen? Mama hat mal erzählt, wie sich Papa hier verlaufen hatte. Er ist dann in einer Höhle in ein Wasserloch gefallen und beinahe ertrunken. Nach zwei Tagen hat ihn Onkel Sébastien gefunden. Seitdem sind sie befreundet. Am besten, ich bleibe einfach hier, nicht dass ich auch in einer Höhle lande. Vielleicht sucht mich Onkel Sébastien auch und findet mich.

Was ist das für ein Geräusch? Vielleicht ein Käuzchen? Oma hat immer erzählt, die kommen, wenn jemand stirbt. Muss ich hier im Dunkeln sterben? Ob Mama und Papa da traurig sind? Mama wäre dann selbst dran schuld! Warum ist sie nur so gemein zu mir gewesen? Das stimmt doch nicht, dass ich ein unnützer Trampel bin!

Da hinter den Bäumen schnieft etwas. Was mag das sein? Hoffentlich kein Bär. Ich rühre mich nicht. Vielleicht bemerkt er mich nicht. Papa hat erzählt, dass es hier in den Pyrenäen Bären gibt. Und auch Wölfe! – War das nicht Wolfsgeheul? Zum Glück ganz weit weg.

Ich bin so müde, muss mich hinlegen. Hier ist es weich.

 

***

 

»Habt ihr ihn gefunden?« Mit tränenverschmierten Augen stürzt Julia auf ihren Mann zu. Hinter ihm steht Sébastien und sieht traurig aus.

»Leider nein! Es ist zu dunkel geworden. Sébastien hat viele Männer im Dorf alarmiert. Gleich morgen bei Sonnenaufgang setzen wir die Suche fort. Wir finden ihn schon.«

 

***

 

Was ist das für ein Lärm? Wo bin ich? Ach so, ich habe mich im dunklen Wald verlaufen. Aber da kommen Leute. Ob die mich gesucht haben? Ich stehe auf und sehe, dass ich in einer kleinen weichen Kuhle gelegen habe. Dann rufe ich: »Hallo, hallo, hier bin ich!«

Eine Frau kommt angerannt, ich erkenne meine Mama. »Oh, mein Kleiner, mein Schatz, haben wir dich endlich gefunden. Was hast du nur gemacht? Jetzt haben wir dich endlich wieder.« Sie schließt mich mit Tränen in den Augen in die Arme und drückt mich so, dass mir die Luft wegbleibt.

Papa steht dahinter. Er freut sich auch, das sehe ich, und drückt mich an seine Brust. Viele Leute aus dem Dorf umringen mich und lachen glücklich. Nur Sébastien sehe ich nicht.

»Wo ist Onkel Sébastien? Hat er mich nicht mitgesucht?«

»Aber natürlich hat er dich mitgesucht. Gestern Abend bis in die Nacht. Dann mussten wir umkehren. Heute Morgen konnte er nicht mitkommen. Ein Wolf hat seine Schafherde angefallen. Da musste er hin.«

 

***

 

»Lukas! Lukas! Wo willst du hin?« Julia rief aufgeregt ihrem Jungen hinterher, der sich plötzlich umgedreht hatte und wie der Blitz den Weg entlangrannte.

»… zu den Schafen … Onkel Sébastien … wieder da bin …« Man konnte ihn kaum verstehen, wie er das so im Laufen seinen Eltern zurückrief. Da war er schon um die nächste Biegung verschwunden.

Julia schaute Tobias erschrocken an. »Ist das nicht die falsche Richtung?«

 

 

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