Jochen Ruscheweyh

Ich wollte mir grade einen Spekulatius von einem der lieblos dekorierten Weihnachtsteller nehmen, als der inkognito auf der Weihnachtslesung anwesende Weltbestsellerautor seine Hand auf meine legte: „Schlechte Idee, mein Junge, ganz schlechte Idee.“
„Verdammt, immer wenn du auftauchst, gibt es Ärger“, zischte ich ihm zu. „Das hier wird mein Abend, ich habe mich top vorbereitet, habe eine sorgfältig ausgearbeitete Kurzgeschichte mit viel Dynamik, bunten Metaphern, nachvollziehbaren Konflikten und einer überraschenden Lösung am Start. Also versau mir das bitte nicht, okay?“
Er verminderte den Druck auf meine Hand, ließ sie aber dennoch auf der meinigen ruhen.
„Spekulatius enthalten wie das meiste Weihnachtsgebäck Pottasche. Pottasche wiederum fördert den Speichelfluss. Was meinst du warum diese Rentner- und Frauenhilfechöre in der Weihnachtszeit so rumrotzen und spucken?“ Er zog hörbar hoch. „Pottasche, Baby, Pottasche. Aber wenn du gleich am Lesepult stehst und die geneigte Hörerschaft mehr Aufmerksamkeit für den Sprechsprühnebel hat, den du absetzt und in dem sich regenbogenfarben das Licht der Leselampe bricht, dann sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Wobei … Sprechsprühnebel … das ist genial, Junge. Aber: Meine Wortkreation, mein Copyright. Sorry.“
Da ich es schon immer gehasst habe, wenn Autoren ihre Figuren die Augen verdrehen lassen, widerstand ich aus Prinzip dem Drang, seine Erörterung visuell rückzukoppeln.
Stattdessen entzog ich mich seinem Griff, ging zum einem der freien hinteren Tische und setze mich.
„Weißt du, Junge, die meisten Leute schreiben aus den falschen Gründen.“ Er war mir gefolgt.
„Ach ja?“, gab ich mich gleichgültig, während ich eine Nadel von einem Deko-Tannenzweig abbrach und in die mickrige Flamme hielt, die das Teelicht auf dem Tisch generierte. Sie enthielt offensichtlich keine ätherischen Öle mehr, denn das pseudogrüne Etwas verglomm genauso gelangweilt, wie die im Raum Anwesenden offensichtlich den Text der mir unbekannten Autorin am Lesepult aufnahmen, trotz der Weihnachts-Keywords Esel, Maria und Domina-Nierenstein. Und auch bei Letzterem blieben die wohl antizipierten Schocks und Lacher aus.
„Und was sind die richtigen Gründe, deiner Ansicht nach?“, erkundigte ich mich schließlich dennoch. Der inkognito auf der Weihnachtslesung anwesende Weltbestsellerautor rutschte ein Stück näher an den Tisch heran, legte sich das überhängende Ende der mit schlittenfahrenden Rentieren überzogenen Weihnachtsdecke wie eine XL-Serviette über den Schoß und biss in fünf übereinandergestapelte Spekulatius gleichzeitig. Folglich – um zwischendurch einmal ein Füllwort zu bemühen – flogen Krümel umher wie Gestein bei einem Ausbruch des Ätna. Er kaute gründlich, lehnte sich zurück und dozierte: „Die richtigen Gründe zu schreiben: a) Frauen mit der Schreibe klarmachen, b) weniger Zeit zum Saufen haben und c) diesen Scheißstimmen im Kopf die Sprechgrundlage entziehen.“
„Frauen klarmachen? Nicht dein Ernst, oder?“, warf ich ein. „Literatur ist ungefähr so sexy wie die Serverprotokolle von WirkaufendeinAuto.de.“
Der inkognito auf der Weihnachtslesung anwesende Weltbestsellerautor machte eine merkwürdige Bewegung mit seinen Augen, ehe er wie ein Ferkel aufzugrunzen begann. Dann angelte er sich eine Weihnachtsserviette vom Tisch und hielt sie der definitiven instagram-influencer-queen of all times to come hin, die unter dem Tischtuch und zwischen seinen unbekleideten Beinen hervorlugte. „Du hast wie immer keine Ahnung, Charly Hannover“, stellte sie fest, während sie mir ihr iPhone gab und die Serviette von ihm entgegennahm. „Bist du so lieb und sendest den Cheat bitte an meinen Vegan-Blogg?“
Im Kommentarfeld unter einer verpixelt unterbelichteten Farbagglomeration, die wahlweise eine UFO-Sichtung, Michael Jacksons Wiedergeburt oder das psychedelische Abbild einer Verkehrsampel darstellen konnte, las ich: „Greatest shot so far und the World‘s Besty rock and rollte mit den Augen …“
Ich bestätigte und schob das Phone von mir weg.
„Du unterschätzt dein Potential, Charly!“, flötete sie und drückte – immer noch unter dem Tisch hockend (um mal eine umständliche Partizipialkonstruktion einzubauen, die genauso gut in einem Nebensatz platziert glänzen könnte) – meine Schenkel auseinander.
„Lass das“, fuhr ich sie an, „und ein für alle Male: Ich bin NICHT Charly Hannover!“
Die definitive instagram-influencer-queen of all times to come legte den Kopf schräg und schaute besorgt drein, ehe ihr Gesichtsausdruck wieder die abgeklärten Züge einer Last Word Must Have-a-rin annahm und sie sagte: „Aber hast du mal dran gedacht, was wäre, wenn du tatsächlich Charly Hannover wärst?“
„Junge, sie hat Recht, du brauchst ein Pseudonym.“
„Einen Scheiß brauch ich. Und ich würde mich jetzt gerne vorbereiten.“
Die definitive instagram-influencer-queen of all times to come zog sich ihre Lippen nach, langte nach ihrem iPhone und photoboothte sich selbst, während sie flötete: „Ich bin hier sowohl behind als auch under the scenes beim Making of von Charly Hannovers Warm up zum Reading Contest, aber denkt ihr nicht auch, Charly braucht etwas Frisches? Eine Oberlid-Hyaluronsäure-Injektion?“, fuchtelte sie mit etwas Spritzenähnlichem vor meinem Gesicht herum.
„Hör zu, Junge, ich weiß, wie sowas hier läuft. Bevor du deine sorgfältig ausgearbeitete Kurzgeschichte mit viel Dynamik, bunten Metaphern, nachvollziehbaren Konflikten und einer überraschenden Lösung vortragen kannst, marschiert ein mit der maximalen Anzahl an Benachteiligungen ausstaffierter Minder-Autor nach vorne und stiehlt dir die verdammte Show.“
„Das ist doch lächerlich“, hielt ich dagegen.
„Am 11.April hat ein transgender, gefolterter Exil-Labujuware beim Burda-Short-Story Award in Hamburg mit einem Text über einen dementen Golden Retriever richtig abgeräumt.“
„Ja. Und?“
„Das war ich.“
„Charly“, begann die definitive instagram-influencer-queen of all times to come, „vertrau uns einfach, ok? Wir wollen dein Selbstmarketing pushen und dafür sind nun einmal bestimmte Schritte notwendig.“
„Du weißt, was zu tun ist“, ergänzte der inkognito auf der Weihnachtslesung anwesende Weltbestsellerautor und deutete auf den kleinen untersetzten Mann mit dem Gehfehler, der aufstand und sich anschickte, zur Toilette zu gehen.
Ich dachte einen Augenblick nach.
Es war still im Raum. Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür. Und folgte dem Klacken seines Stocks.

Ich habe schon immer die Maxime verfolgt, dass ich von jedem Autoren lernen kann. Unser Gespräch auf der Toilette war erhellend, befruchtend, inspirierend und eröffnete mir vollkommen neue Sichtweisen. Darüber hinaus erwies sich mein Gesprächspartner als eloquent und angenehm. Zu schade, dass er seine Geschichte zurückzog und nicht zum Vortragen brachte.
Sicher, Gewalt oder das Androhen ebensolcher war mittel- und langfristig keine Lösung, mangels anderer Alternativen kurzfristig jedoch die einzige Option. Die definitive instagram-influencer-queen of all times to come hakte mich unter und begleitete mich zum Lesepult, wo sie routiniert ihren Selfie-Stick positionierte und ihrem Phone erklärte, wie abgefahren es sei, dass Charly Hannover tatsächlich Charly Hannover wäre, während der inkognito auf der Weihnachtslesung anwesende Weltbestsellerautor eine Elektrokerze vom Baum nahm, diese wie eine Banane pellte und hineinbiss. Das wäre den meisten Menschen seltsam vorgekommen. Aber die waren sicherlich auch keine Autoren oder schrieben aus den falschen Gründen.