Von Jochen Ruscheweyh

Komm, nimm noch einen, Werner! Eine kleine Fahne ist beim Mann immer sympathisch.“

Ehe Werner einen Einwand erheben konnte, stand eine neue Runde Export vor ihnen auf dem Tresen. „Und mach mir keine Schande. Die Kleine ist die Tochter von meinem Schrebergartennachbar, dem Willy Steinköhler, das ist ein ganz hohes Tier bei der Stadt“, sagte Rudi, während er dem 30 Jahre jüngeren Werner beinahe väterlich den Anzug glattstrich und die Krawatte richtete. „Prösterchen!“

„Ich muss los, Rudi!“, wandte Werner ein.

Rudi steckte sich eine Overstolz an und tippte gegen Werners Glas. Der seufzte, stürzte das Export runter, wischte sich kurz mit dem Handrücken über den Mund und sagte: „Danke, Rudi. Für alles.“

„Komm, schieb ab, bevor ich noch sentimental werde.“

 

Als Werner auf die Straße trat, fiel ihm auf, dass er es mit der Bahn sicher nicht mehr rechtzeitig zum Theater schaffen würde. Die Karten, die er in einem Couvert in der Innentasche seines Anzugs trug, waren teuer gewesen. Aber er war gespannt, was Sophie sagen würde, wenn er mit einer lockeren Handbewegung zwei Mal „Der Stellvertreter“ aus seiner Tasche hervorziehen würde. Er blickte sich um, auf der anderen Straßenseite befand sich eine Taxirufsäule. Mit wenigen Schritten eilte er hinüber und betätigte den Hebel. Aus dem Lautsprecher ertönte ein lautes Knarzen. Dann nichts mehr. Er zog erneut an der Vorrichtung, doch auch beim zweiten, dritten und vierten Mal hatte er keinen Erfolg. Er war grade im Begriff, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, als er in einiger Entfernung einen Wagen auf sich zukommen sah, hinter dessen Windschutzscheibe das Schild Frei leuchtete. Wie wild ruderte er mit den Armen.

Das Glück war mit den Tüchtigen, denn wenn jemand tüchtig war, dann er. Zumindest hielt ihn jeder aus der Abteilung für tüchtig. Allen voran Rudi. Und der musste es wissen, solange wie der schon bei den Stadtwerken war.

„Stadttheater“, sagte Werner kurz, während er auf der Rückbank Platz nahm.

 

Sie waren bereits ein gutes Stück gefahren, als der Fahrer auf die Bremse trat, am Straßenrand hielt, sich umwandte und ihm eine Tasche nach hinten reichte.

„Ich verstehe nicht“, sagte Werner, „was soll ich damit?“

„Schau halt rein!“, ranzte ihn der Fahrer an. Erst jetzt fiel Werner auf, dass dieser einen weißen Kragen trug.

„Sie sind ja gar kein Taxifahrer!“, entfuhr es Werner, warum, wusste er selbst nicht, denn schließlich gab es kein Gesetz dagegen, dass Taxifahrer weiße Kragen trugen.

„Das hast du richtig erkannt, ich bin ein calvinistischer Pater aus Lüttich und ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Du kümmerst dich um diesen Hund.“

„Um welchen Hund?“

Der Taxifahrer oder vielmehr der Pater klopfte gegen die Tasche. Aus dem Inneren drang ein leises Jaulen. Vorsichtig öffnete Werner die Tasche. Die feuchte Nase eines Cocker Spaniels drängte hinaus, schnüffelte nach links und rechts, dann zwängte sich der komplette Hund durch die Öffnung, die der halbgeöffnete Reißverschluss bildete.

„Heda, Vorsicht!“, entfuhr es Werner, ehe ihm klar wurde, dass der Hund ihn nicht verstand.

„Kommen wir auf den Handel zurück“, drängte der Pater.

„Und?“ fragte Werner.

„DU KÜMMERST DICH UM DIESEN HUND“, wiederholte der Pater, nun ein wenig lauter.

„Aber … he, lass das!“, schob Werner den Kopf des Cockerspaniels zur Seite, nachdem dieser ihm mit der Zunge über die Wange geleckt hatte. „Wo ist denn nun der Handel? Ich meine, was bekomme ich dafür?“

Der Pater setzte seine Mütze ab und strich sich über seinen haarlosen Schädel, auf dem eine frische, gezackte und blutverkrustete Narbe prangte, aus der noch Fäden schauten.

„Oh, mein Gott“, sagte Werner, „was ist mit Ihnen?“

Der Pater lächelte. „Meine Uhr läuft langsam ab.“

„Sie gehören in die städtischen Kliniken, da wird man sich um Sie kümmern.“

„Mein Vikar ist recht gut an der Nadel“, winkte der Geistliche ab. „Und Kopfhaut ist auch nicht viel härter als Talarstoff oder das Leder eines Kollekte-Beutels.“

„Wer hat Ihnen das angetan?“, fragte Werner.

Ohne auf die Frage einzugehen erklärte der Pater: „Wenn du dich um diesen Hund kümmerst, wird es weiter sieben Brauereien in Dortmund geben, du kannst wochentags deiner Arbeit bei den Stadtwerken nachgehen, Hoesch kocht weiter Stahl und bei Fischer am Markt bekommst du das frischeste Brot.“

„Und wenn ich nicht …“

Der Blick des Paters veränderte sich, zumindest wirkte es so auf Werner. Dann bewegte der Geistliche den Kopf vor und zurück und schob seine Zunge zwischen den Lippen hervor. Anders als bei anderen Menschen schien diese kein Ende zu haben. Werner musste unwillkürlich an einen Lehrfilm über Bratwurstproduktion denken und wie sich die meterlangen Därme mit Wurstbrät auf den Produktionstischen türmten. Mittlerweile füllte das raue rosafarbene Etwas bereits das halbe Taxi aus. Den Cocker Spaniel kümmerte dies weniger, dieser versenkte seinen Kopf in Werners Anzugjacke und grunzte und schnaubte, als befände sich ein Stück Fleischwurst darin. Als das Tier einen Moment später wieder aus den Tiefen von Werners Anzug auftauchte, glaubte er, Reste der Theaterkarten zwischen den Zähnen des Spaniels ausmachen zu können. Glaubte, da die nicht enden wollende Zunge inzwischen bereits die Fenster verdunkelte.

„Ist ja gut, ich mache es, aber hören Sie auf mit was immer Sie da tun.“

Einem Gummiband gleich flutschte die Zunge des Paters zurück in dessen Mund.

„Gut, er heißt Fleischmann. Er wächst nicht mehr, altert aber auch nicht. Fleischmann ist kein gewöhnlicher, sondern ein übernatürlicher Hund, der den Teufel riechen kann. Behandle ihn gut und du hast einen treuen Freund fürs Leben. Ach ja, und gib ihm keinen Limburger, holländischer Käse verursacht bei ihm Blähungen.“ Mit diesen Worten löste sich der Pater in einen Schwarm fluoreszendierender Getreidemotten auf, der aus dem Fenster stob.

 

Durch die Frontscheibe sah Werner in einiger Entfernung die Thier Pils Leuchtreklame. Er war also in unmittelbarer Nähe des Theaters. Werner wartete, bis das stilisierte Glas sich mit Bier gefüllt und eine Schaumkrone bekommen hatte, dann nahm er den Hund an die Leine, die er auf der Hutablage hinter sich fand, und stieg aus.

 

Er erkannte Sophie schon von Weitem an ihren hochgesteckten roten Haaren. Das schwarz-weiß-karierte Kleid stand ihr ausgesprochen gut. Ein leichtes Brennen durchzog Werners Brust. Wie sollte er Sophie nur erklären, dass er mit einem Hund zu ihrer ersten Verabredung kam und dass dieser ihre Theaterkarten gefressen hatte? Und wer war das Mädchen neben Sophie?

 

„Das ist Hilde“, erklärte Sophie, während sie Fleischmann anstarrte.

„Oh“, entgegnete Werner, „das ist Flei… , Flei… äh, Freiherr von Cock, mein Spaniel, äh, ich meine, mein Hund. Er ist mir vorhin zugelaufen.“

„Was ist das denn für ein komischer Name?“

„Shake my banta hoe!“, entfuhr es Werner, obwohl ihm die Bedeutung des Satzes und die Herkunft der Worte nicht bekannt war.

„Wie bitte?“, erkundigte sich Sophie.

„Ich glaube, er hat Schüttel mein buntes Hallo gesagt.“

Sophie wandte sich wieder an Werner: „Bist du ein Beatnik?“

Fleischmann, der sich zwischenzeitlich hingelegt hatte, erhob sich und schlawenzelte um Sophies Beine.

„Nimm das Untier weg! Nimm es weg!“

„Aber …“

„SOFORT!“, schrie Sophie.

 

„Noch nie im Leben bin ich so behandelt worden! Komm Hilde, wir gehen!“

Werner sah, dass Sophies Freundin zögerte.

Sophie drehte sich noch einmal um zu Hilde: „Ich sagte wir GEHEN!“

Mit einem Mal hob Hilde ihren Zeigefinger und schob sich ihre Hornbrille grade: „Jetzt weiß ich, was er gesagt hat.“

„Und was?“

„Shake my banta hoe!“

„Und was soll das heißen?“

„Das weiß ich nicht“, erklärte Hilde, zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.

 

„Wieso bist du geblieben?“, fragte Werner, während Hilde Eiskaffee durch einen mehrfach gebogenen Trinkhalm schlürfte.

Er sah auf ihre Hände, während sie ihren Mund mit einer Serviette abtupfte. Sie wirkten so fein und zerbrechlich wie das Porzellan seiner Großmutter.

„Du bist gut zu Hunden.“

Werner lächelte.

„Und du sprichst Englisch“, fügte sie hinzu.

Eine Bedienung trat an den Tisch: „Haben Sie es schon gehört? Der Papst ist gestorben!“

Werner blickte unter den Tisch, wo Fleischmann lag und an einer Eiswaffel knabberte. Er mochte sich täuschen, aber die Augen des Spaniels hatten einen dunkelroten Ton angenommen. Und dessen übereinander geschlagenen Vorderbeine schienen ein Kreuz zu formen. Und … er begann zu schnüffeln.