Von Jochen Ruscheweyh
Der inkognito auf seiner eigenen Party anwesende Weltbestsellerautor nahm mich zur Seite und sagte: „Junge, siehst du die Kleine da drüben?“
Ich schaute zur Ledersitzgruppe hinüber, von der aus sie mir bereits zuwinkte.
Meine gute Kinderstube befahl mir, ihr Winken zu erwidern.
Er klopfte mir auf den Rücken und fügte hinzu: „Vermassel es nicht.“
Ich griff meinerseits in seine Anzugtasche, fischte eine seiner Visitenkarten heraus und las vor: „Roy Baxter, KFZ Innenpflege Produktdirektvertrieb?“
Er strich sich seinen Anzug glatt und antwortete: „Wer würde schon einen Weltbestsellerautor hinter diesem Wort-Monster vermuten?“
„Aber was für einen Sinn macht es, zu einer Party von jemandem zu gehen, der offensichtlich gar nicht auftaucht?“, gab ich zu bedenken.
„Eine Gegenfrage: Was für einen Sinn macht es, zu einer Party von jemandem zu gehen, den man offensichtlich für ein echtes Arschloch hält? Und? Die Leute tun es trotzdem. Und jetzt ab mit dir, Charly Hannover!“
Ich wollte grade einwenden, dass ich nicht Charly Hannover hieß und dass dies nur ein Nickname wäre, den die definitive instagram-influencer-queen of all times to come mir verpasst hatte, weil sie die klangliche Abfolge der Vokale und Konsonanten mochte. Aber er hatte sich bereits bei einer gutsituiert wirkenden Endfünfzigerin untergehakt, die er – wie schon so viele andere vorher – diskret, aber bestimmt gen Buffet bugsierte, während er ihr erklärte, dass Mirror-Monk das Mittel der Wahl für ihr Spiegel-Problem sei.
Ich reichte dem Mädchen ein Glas Rotkäppchen Sekt und ließ mich neben ihr auf dem Ledersofa nieder. „Ich werde das nicht tun.“
Sie schob ihre Unterlippe über die obere. „Aber warum nicht, Charly?“
„Weil ich verdammt nochmal nicht Charly Hannover heiße und weil der Plot seit gut zweihundert Jahren steht. Und wenn ich mich recht erinnere, kommst du doch am Ende ganz gut dabei weg.“
„Natürlich hast du in gewisser Weise recht, aber …“
Sie konnte den Satz nicht zu Ende führen, da ihr ein Buddy Holly – Verschnitt mit verschmierter Brille zurief: „Deine Haare sehen heute toll aus, Snow-Whitey!“
„Für dich immer noch Schneewittchen!“, giftete sie ihn an, wobei ein Stück Apfel aus ihrem Mund flog und auf dem Lachsschnittchen einer älteren Dame schräg neben uns landete, das diese fast zeitgleich zum Mund führte.
Ich dachte einen Moment darüber nach, aufzustehen und rein prophylaktisch eine Oberbauchkompression nach dem Heimlich-Prinzip bei der Seniorin durchzuführen, entschied mich letztendlich aber dagegen, da die am Buffet somnambulierende GALA-Kolumnistin etwas Dynamik in Form eines Notarzteinsatzes sicher begrüßen würde.
Einen Moment später erhielt ich eine SMS der definitiven instagram-influencer-queen of all times to come: „Verdammt Charlie, hör auf in Fremdworten zu denken, die deine Zielgruppe nicht versteht.“
Ich antwortete aus Prinzip mit einem der Emoji-Icons, die auf anderen Smartphones nicht funktionieren, weil ich mir als Autor noch nie in meine Denke habe mailen lassen und schlafwandelnde GALA-Kolumnistin vollkommen unattraktiv klang und immer klingen würde, selbst nur gedacht.
Nachdem Buddy Holy abgeschoben war, legte ich die Hand an ihre Wange, weil ich das Gefühl hatte, dass es Zeit für eine charakterstarke Geste war: „Hey, ich finde, in deinem Kontext bist du absolut authentisch.“
„Ich kann gut küssen …“, erwiderte sie.
Dabei schwang ein Zwischenton mit, den Figuren mir gegenüber öfter anschlugen, wenn sie mit dem ihnen zugewiesenen Plot haderten.
Der inkognito auf seiner eigenen Party anwesende Weltbestsellerautor plöppte wie ein Springteufel hinter dem Ledersofa hoch und raunte mir – unhörbar für SW – zu: „Mutti und Tochter keuschheiten seit der Grimmzensur jetzt zweihundert Jahre im Subtext herum. Du könntest etwas Swing in die Sache bringen, wahlweise auch Swinger-Club.“
„Wie viele generalüberholte Märchen standen jemals auf der Spiegel-Bestseller-Liste?“, raunte ich zurück.
Er drehte mir sein Gesäß zu und bedachte mich mit einer übelriechenden Flatulenz.
Mein Smartphone honkte: Facetime-Call von der definitiven instagram-influencer-queen of all times to come. Ich drückte sie weg, denn ich fand den Terminus Flatulenz durchaus zielgruppenadäquat.
„Druckkostenzuschussverlagsfreund!“, provozierte mich der inkognito auf seiner eigenen Party anwesende Weltbestsellerautor.
Die Dynamik steigerte sich ins Astrophysische, als die Apfelstück-Seniorin kollabierte. Zu meinem Erstaunen war es die GALA Kolumnistin, die mit einem beherzten Dreisprung am Objekt des Ablebens war und erste Hilfe leistete.
„Scheiß drauf, lass uns den Plot umarbeiten!“, flüsterte ich Schneewittchen zu und zog sie hinter mir her in eins der Separees, von denen ich mir vorstellte, dass der inkognito auf seiner eigenen Party anwesende Weltbestseller-Autor sein Haus definitiv damit ausgestattet haben müsste.
Schneewittchen drückte mich in die Kissen und setzte sich rittlings auf meinen leeren Bauch, denn ich war noch nicht einmal dazu gekommen, ein Kanapee vom Buffet zu nehmen.
Sie konnte märchenhaft küssen, aber als Materialisation der Lebensleistung von Jakob und Wilhelm Grimm erschien mir ihr Gewicht plötzlich unerträglich. „Sorry, es funktioniert nicht, aber lass uns Freunde bleiben“, presste ich heraus, bevor ich mich seitlich unter ihr wegrollte.
Ich holte Brötchen in der Backstube um die Ecke, die schon gegen Fünf öffnet, ging zurück in mein Apartment und setzte Kaffee auf.
Der inkognito von seiner eigenen Party abwesende Weltbestsellerautor wirkte im Gegensatz zu mir wie aus dem Ei gepellt, so wie er mir am Frühstückstisch gegenübersaß.
Er schnitt sich dickere Salamistücke ab, als es der Anstand eigentlich gebietet, dekorierte sein Brötchen damit und legte noch doppelt Käse obendrauf.
„Junge“, begann er, „diese Stiefmutter, schärfer als Joan Collins in ihren besten Tagen. Hey, was hast du da?“, unterbrach er sich selbst und griff nach dem Blatt vor mir, biss in sein Brötchen und las mit gefülltem Mund laut vor: „Einen unvergänglichen Design Klassiker schuf Cupertino um die Jahrtausendwende. Im Inneren des transparenten, an einen Glassarg erinnernden Apple Cube G4 befindet sich nicht etwa das sedierte Schneewittchen sondern ein auf 450 MHZ getakteter IBM Prozessor, der sowohl mit MacOS 9 als auch X umgehen kann und auch heute noch als must have unter den Apfel-Jüngern gilt. Märchen und Desktop-Computer haben vielmehr gemeinsam als …“
„Und?“, fragte ich.
Er griff nach meinem Kaffee, nahm einen größeren Schluck als man für gewöhnlich aus fremden Tassen … ach, egal, sah mich an und sagte: „Grottenschlecht, mein Junge, grottenschlecht, aber ein Anfang, du solltest dran bleiben!“