Von Jochen Ruscheweyh
Ich identifizierte den inkognito auf der Party anwesenden Weltbestsellerautor sofort, der an diesem Abend ein T-Shirt mit dem Aufdruck Weltbestsellerautor trug. Mit einem dekadenten Häppchen in der einen und einem Szenedrink in der anderen Hand schlurfte ich zu ihm hinüber, zeigte auf sein Shirt und sagte: „Tarnung wird im Allgemeinen überschätzt, wie?“
Er zog eine John Player aus der Innentasche seines Jacketts, und ratschte eines von diesen überall entzündbaren Streichhölzern über die Marmorplatte des Tisches neben ihm. Die hellste grün-bläuliche Flamme, die ich je ein Zündholz hatte absondern sehen, setzte die Spitze seiner Zigarette in Brand. Er inhalierte, kniff ein Auge zu und sagte: „Junge, Tarnung wird dann überflüssig, wenn das Offensichtliche so wenig offensichtlich ist, dass es keiner Tarnung mehr bedarf. Daher meine Kleiderwahl heute.“
Ich nickte, obwohl es eigentlich keinen Grund dazu gab, denn ich konnte mit dieser Absurdisierung nicht konform gehen.
„Scheiß Party, hier treibt sich viel zu viel Schreibergesocks rum“, eröffnete er mir.
„Aber wir sind doch auch Autoren“, wandte ich ein.
„Jaja“, klopfte er mir auf den Rücken, „ aber du und ich sind richtig, die anderen nur rumposende Kugelschreiber-Benutzer. Nein, streich das letzte Wort und ersetz es durch Grafit-Verschwender.“
„Bleistifte habe ich zuletzt in der Grundschule benutzt“, erklärte ich, mehr um etwas zu sagen, als dass ich wirklich davon überzeugt war, dass es als Argument in unserer Diskussion Bestand haben könnte.
„Entschuldige, Junge“, sagte er und brach sich eine Ecke von dem Kanapee, das ich immer noch in der Hand hielt, ab, kaute kurz darauf herum, ehe er sich die angefeuchteten Bröckchen in die Hand spuckte, eine Kugel daraus formte, die andere Hand hob und „Garcon?“ rief.
Ein Smokingträger mit zurückgegeltem Haar und einem Tablett mit mindestens fünfzehn Sektflöten und einer bereits aus der Entfernung als überteuert zu erkennenden Flasche elsässischen Perlweins eilte herbei.
Der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor nahm sich eine Flöte, nippte daran und fragte: „Wenn ich heute Abend jemanden dringend kennenlernen müsste, wer meinen Sie, müsste das dann sein?“
„Oh, pardon, aber es steht mir nicht zu Empfehlungen dieser Art auszusprechen“, erwiderte der Smoking-Träger.
Mit einem Knistern versenkte der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor einen zwanzig Euro Schein in der angedeuteten Brusttasche des Kellners, der daraufhin gesprächig wurde: „Aber wenn ich einmal über meine Prinzipien hinwegsehe, dann würde ich es mit Ted Glockenstoner zu versuchen. Er hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich, Malerei, Musik und jetzt auch noch Schriftsteller. Mit ein bisschen Glück wird sein Verlagsagent ihn überzeugen, heute Abend noch eine Passage aus seinem Roman Ein Bügelbrett voll Wasabi-Rouladen vorzulesen.“
„Verdammt“, sagte der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor, legte seinen Arm um meine Schulter und dirigierte mich aus dem Raum, nicht ohne vorher den Brotbröckchen-Ball diskret und vollkommen unbemerkt, aber umso zielsicherer in Flöte Zwölf auf dem Tablett des Kellners versenkt zu haben – „was für ein beschissener Künstlername, warum nur habe ich das Gefühl, dass ich diesen Kometen heute Abend verglühen sehen möchte? Bist du dabei, Junge?“
Was antwortet man, wenn einem ein inkognito auf einer Party anwesender Weltbestsellerautor eine solche Offerte macht?
„Ich hätte vorher gerne noch ein bis drei Kanapees und“ – ich deutete auf mein Glas – „einen neuen Verschrobenen Wachtmeister“, sagte ich.
„Wenn es nur das ist … Garcon? Mein Junge und ich brauchen noch mehr Alkohol.“
Wir beobachteten ihn durch das geschlossene Fenster, wie er auf der Veranda von einem Pulk junger Frauen umringt, Autogramme gab. Als riete der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor meine Gedanken, raunte er mir zu: „Ted Glockenstoner war von allem ein bisschen zuviel: Zu charmant, zu gutaussehend, zu durchtrainiert und zu repräsentativ. Er konnte einem fast ein wenig Leid tun, da er nicht ahnte, dass er am nächsten Morgen mit einer Narbe auf seiner linken Wange aufwachen sollte, die sein Gesicht für immer entstellen würde.“
„Und wenn er den Erfolg tatsächlich verdient hat? Ich meine, was ist, wenn er Tag und Nacht dafür gearbeitet hat, sich mit schlecht bezahlten Nebenjobs über Wasser gehalten und jede freie Minute in seine Kunst investiert hat?“, hielt ich entgegen.
„Ich sag dir mal eins: mit schlecht bezahlten Nebenjobs kannst du dich nur über Wasser halten, wenn du säufst; einen reichen Daddy hingegen kannst du nur ertragen, wenn du kokst. Und jetzt guck dir Teddybear da draußen mal an. Für mich sieht der mehr nach Koksen aus.“
Ich biss in mein Kanapee, kaute bedächtig und dachte darüber nach, wie es wohl war, auf Koks zu schreiben. Nicht, dass ich es vorgehabt hätte, geschweige denn, dass ich es mir hätte leisten können. Der Schlag des inkognito auf der Party anwesenden Weltbestsellerautors traf mich unerwartet, in der Magengegend, sodass mir kurz die Luft wegblieb und ich auf die Knie ging.
„Alles in Ordnung, Freunde, kein Grund zur Panik. Der Junge hier ist Cosmoleptiker, in fünf Sekunden geht es ihm wieder gut!“, rief der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor zwei Best-Ager-Pärchen in Abendgarderobe zu, die uns schräg gegenüber Martinis tranken und ziemlich verunsichert dreinblickten. Als ich mich wieder hochgerappelt hatte, stellte er sich hinter mich, massierte mir die Schultern und sagte mit Hamburger Dialekt: „Champ, Sie haben gerade einen harten Punch einstecken müssen, trotzdem, antworten Sie bitte ganz spontan, roh und unverfälscht: Was ist Ihr favorisiertes Motiv in der Literatur?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, wirbelte er um mich herum und sprach nunmehr frontal mit der flatterhaften Stimme eines Psychopathen auf mich ein: „Hass oder Neid, Neid oder Hass? Mir ist’s einerlei!“
Ted Glockenstoner hatte sich inzwischen an ein freies Klavier im Salon gesetzt und spielte mit verachtenswerter Leichtigkeit Chopin, gefolgt von Mozart und Bach.
Der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor steckte sich eine neue John Player an, wobei sein Zündholz eine hässliche schwarze Spur auf der cremeweißen Textiltapete neben ihm hinterließ. „Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis über das Schreiben, das du weder bei Frey noch in irgendeinem Creative-Writing-Workshop vermittelt bekommst …“
„Ach ja? Und auf was muss ich mich diesmal einstellen? Gehirnerschütterung oder einen Wadenbeinbruch?“
„Junge, Junge, Junge, Junge, Juuunge!“ – er sagte es immer schneller, bis der Begriff zu einem Wortkreisel in meinem Kopf mutierte, der erst dann abrupt stoppte, als er mir eröffnete: „Das beste Plotting der Welt ist immer noch das Leben.“
Ich ließ den Satz, der für mich wie ein unprofessionell gedichteter Schlagertitel klang, einen Moment sacken. Der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor sah mich an und in dem Moment, in dem sein Mienenspiel sich zu einem Grinsen wandelte und seine Unterlippe den Blick auf einen mir bis dahin verborgenen Goldzahn freigab, erkannte ich, was er meinte.
„1973: Eine Krähe hackt der anderen beide Augen aus“, sagte ich. „Ab Seite 48.“
„Korrekt. Mein erster Bestseller. Da fing meine Serie an.“
„Sie meinen, Sie haben sie tatsächliche alle getötet? Für jeden Ihrer literarischen Morde haben Sie als Recherche einen echten Mord begangen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Was blieb mir anderes übrig? Ich bin nicht Karl May. Ich habe nur eine begrenzte Phantasie, aber ich bin ein guter Beobachter. Ein sehr guter. Vielleicht sogar der Beste. Und jetzt, mein Junge, du weißt, was du zu tun hast.“
Mit diesen Worten steckte er mir das Messer zu. Es wirkte klein, fast unscheinbar, mehr wie eine Lampe oder ein Flaschenöffner, aber als ich die Verriegelung löste, sprang die Klinge wild, ekstatisch und mit unbändiger Kraft aus dem Schaft heraus. Ich nahm eines der ausgelegten Exemplare von Ein Bügelbrett voll Wasabi-Rouladen zur Hand und sah fasziniert zu, wie sich der Klingenstahl durch Seite drei, vier und fünf gleichzeitig bewegte.
„Prologe sind ohnehin etwas für Verlierer“, bemerkte der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor. „Du setzt dich zu ihm an den Flügel. Ein kurzer Schnitt von links unten schräg nach oben. Milz, Leber und Lunge gleichzeitig. Und im Zenit verglüht der Komet. Und dann, Junge, dann brauchst du es nur noch niederzuschreiben.“
Wie er es mir schilderte, schien es mir verständlich, nachvollziehbar, vielleicht sogar unvermeidlich im Kontext einer teleologischen kosmischen Ordnung, die mich anstelle von ihm, Glockenstoner, vorsah.
Ich durchschritt den Raum, das Instrument meiner Transformation zum Weltbestsellerautor fest mit den Händen umklammert, stieß einen Partygast, der meinen Weg kreuzte, zur Seite und zwängte mich hinter das Klavier. Glockenstoner sah mich nicht an, fuhr selbstverliebt mit seinem widerlich romantischen Für Elise fort.
Ich war im Begriff, zuzustechen, als mir auffiel, dass der inkognito auf der Party anwesende Weltbestsellerautor Unrecht hatte. Glockenstoner hatte von allem zuviel, ja, aber gleichzeitig umgab ihn diese Atmosphäre von unsagbarer Traurigkeit, über die ich schreiben wollte, oder besser gesagt, musste. Ein Umstand, der Glockenstoner davor bewarte, ein Erstes Kapitel – Opfer zu werden. Nein, sein Tod müsste langsamer kommen, sich wie ein Unwetter zusammenbrauen und dann mit der Wucht eines sich entladenden Orkans über ihn hineinbrechen, grade dann, wenn der Leser davon überzeugt war, dass er seine Depression überwunden hatte und sich alles zum Guten wenden würde. Aber zu diesem Zweck brauchte ich noch etwas Futter für seine Figur.
Also legte ich meine Hand auf die Tastatur und spielte die zweite Stimme mit. „Herr Glockenstoner“, sagte ich, „ich schreibe für Books International und unsere Leser würden gerne den privaten Ted kennenlernen. Dürfte ich Ihnen ein paar kurze Fragen stellen?“