Von Jochen Ruscheweyh

Ich warf mein Mobiltelefon gegen die Wand meiner Suite und versetzte dem Relax-Sessel einen gepflegten Tritt gegen die Seitenlehne. Ted Glockenstoners Medienberater zu sein, war keine Sache, die ich mir aktiv ausgesucht hatte. Es war einfach irgendwie passiert. Hätte ich auf den inkognito auf der Party anwesenden Bestsellerautor gehört und Glockenstoner an jenem Abend vor drei Monaten am Klavier diskret aufgeschlitzt und ausbluten lassen, wäre ich inzwischen sicher in der finalen Phase meines Debutromans. Was hatte mich nur geritten, in Glockenstoner irgendeine Art von Esprit, Lebenserfahrung oder Schicksalsdemut zu vermuten, die es wert waren, von mir katalogisiert, bewertet und im Kontext meiner Erzählung beschrieben zu werden, bevor ich ihn sterben ließ?

Das Konterfei eines über einen MTV-verseuchten fünfzig Zoll Display hüpfenden George Michael im zu saloppen Choose Life-Sweater jedenfalls nicht. Eher die Angst vor meiner eigenen Courage, die Sache tatsächlich durchzuziehen. Denn die Konsequenz des von dem inkognito auf der Party anwesenden Weltbestsellerautors propagierten real-plottings konnte nicht nur in einem vorderen Platz auf der Spiegel-Bestseller-Liste liegen, sondern vor allem in einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Gut, in jeder einigermaßen traditionell geführten Justizvollzugsanstalt würde ich als Mörder eines Anti-Sympathen wie Glockenstoner stehende Ovationen oder zumindest eine Jahresextrazuteilung Nachtisch bekommen, aber letztendlich ging es doch um meine persönliche Freiheit und Individualität. Oder anders gesagt, um die Frage, ob ich meinen literarischen Hassklumpen mit dem Prädikat „schwerstens vorbestraft, aber Straßen-glaubwürdig“ oder „postpubertär-fantasierender-Laptop-Milchbubi“ unter die Masse der Rezipienten bringen würde.

Diesen Konflikt aufzulösen war nichts, was mir mit Hilfe des Inhaltes der Minibar meiner Suite gelingen konnte. Also versuchte ich es auch gar nicht erst.

Im Fahrstuhl aufwärts zur CocoNutSkyAirLounge wurde mir zusätzlich bewusst, wie sehr Glockenstoner mich indirekt steuerte, mich durch geschickte Manipulation (Hey, Kumpel, ich habe ein neues Kapitel geschrieben, ich dachte es interessiert dich vielleicht, außerdem habe ich einen Extra-Rand für deine Anmerkungen gelassen) dazu brachte, ihm ein kostenfreies Lektorat zu liefern. Denn wer mich kennt, weiß, dass ich eine Dauer-Blockade habe, NEIN zu sagen, wenn mir jemand die Möglichkeit zu einer Textarbeit eröffnet (Marker und Klebepunkte habe ich dir schon hingelegt und achte bitte auf die Zeiten, da springe ich öfter. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du zeitenfester als der Tidenhub bist, mein Guter? Und denk bitte daran, mir noch die Pressemappe für morgen vorzubereiten).

In der siebten Etage stieg die definitive instagram-influencer-queen of all times to come zu, die ich daran erkannte, dass sie live aus der Fahrstuhlkabine bloggte, dass sie gerade in die megamäßigste Fahrstuhlkabine eingestiegen wäre, von allen, die je gewesen wären und noch kommen würden. Und das Einzige, was diesem Augenblick gerecht werden könnte, wäre ein cold-icecream-double-choccamatte, den sie samt BioCycle-Halm aus ihrer Handtasche vorholte.

Ich duckte mich instinktiv, da ich nicht fand, dass es mir zustand, Teil ihrer Performance zu sein und wartete in Kauerstellung, bis sie ihr iPad wieder in der scratch-saver-everfolierung eingeschlagen hatte. Sodann stöhnte sie erleichtert auf, öffnete den oberen Knopf ihrer Lemarko-Jeans und ließ den Ansatz eines Anflugs eines Bauchansatzes über den Steg ihrer Jeans gleiten, der sich jedoch entweder zu weigern schien oder doch so minimal ausgeprägt war, dass er die Stegbarriere aus rein physikalischen Gründen nicht überwinden konnte. Im Gegensatz zum inkognito auf der Party anwesenden Weltbestsellerautors nannte sie mich nicht Junge, sondern Charly Hannover; warum, klärte sie nicht auf, da sie gleich zur Sache kam. „Charly Hannover, du hast dich da in eine Sache reingeritten, aus der du offensichtlich selbst nicht mehr herauskommst.“

Ihre Einschätzung schien mir bemerkenswert passend, traf andererseits wohl auch auf die Hälfte aller Autoren zwischen Hagen und Fallingbostel zu. Trotzdem nickte ich und sagte „Ich komme mir vor, als ob …“

„ … du mit einem Biber und einem Holzbesen in einer Holzhütte eingeschlossen wirst und diese reinigen sollst? Und während du fegst, macht der Biber Späne aus den Grundbalken?“

„Ja, so in etwa.“

„Du darfst es dem Biber nicht übelnehmen. Das Nagen liegt in seiner Natur.“

„Möglich, aber ich bin Autor und in meiner Natur liegt es zu schreiben.“

„Im günstigsten Falle, Charlie, im günstigsten Falle. Kennst du den Begriff prison of my own making?“, fragte sie und drückte gleichzeitig den Nothalt.

Wir kamen zwischen dem dreiundzwanzigsten und vierundzwanzigsten Stock zum Stehen. Die definitive instagram-influencer-queen of all times to come holte erneut ihr iPad heraus und zerzauste ihre Hochsteckfrisur. „Oh, mein Gott, oh mein Gott“, schrie sie, während sie sich selbst mpeg4-clippte, „Charly Hannover und ich sind in einem Lift steckengeblieben, es wird immer heißer und ich glaube, wir werden ersticken.“ Sie schüttelte das Pad noch ein wenig und seufzte – überflüssig demonstrativ wie ich fand – : „Charly, wir kommen hier nicht lebend raus!“, bevor sie das Pad gegen ihre Brust drückte und so einen schwarzen Fade-out provozierte.

Als wäre nichts geschehen, richtete sie sich die Haare und entsperrte den Nothalt. „Vielleicht hast du dir dein eigenes mentales Gefängnis gebaut, Charly“, erklärte sie, als wir auf die CocoNutSkyAirLounge traten. „Ich meine, ich kenne zum Beispiel einen Blogger, der sich zu Tode recherchiert hat.“

„Wie das?“, warf ich ein.

Die definitive instagram-influencer-queen of all times to come legte den Kopf schief und ließ Falten auf ihrer Stirn entstehen: „Warum zerfragst du alles, Charly Hannover? Lad mich lieber auf eine SkyBanana ein.“

 

Weil alles andere nicht ausreichend gewesen wäre, photoboothte die definitive instagram-influencer-queen of all times to come ihren Shake und bloggte parallel „A gift from Charly“.

Und ich? Ich war kein Stück weiter.

„Ich denke, ich liege irgendwo zwischen dir und deinem inkognito party animal“, überlegte sie laut.

„Weltbestsellerautor“, verbesserte ich, „auf der Party inkognito anwesender …“

„Bei mir gibt es keinen Plot“, erklärte sie, „also brauche ich auch keine daily life snipets zusammenzusetzen, denn nichts anderes meint er doch mit real-plotting, das ist einfach eine Art scrapbooking für Poem-Affine. Ekelhaft.“

Ohne dass ich ihn hatte kommen sehen, stand Glockenstoner plötzlich vor unserem Tisch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich nieder. Wortlos, aber mit dem niederträchtigsten Pseudo-Grinsen, das ich jemals einer Figur zugeschrieben hatte, schob er mir einige Seiten Text hinüber. Ich überflog die Zeilen, die mit dem Satz endeten: Ted Glockenstoner zog ein Messer. „Das wollte ich schon so lange tun“, presste er hervor, als er die Klinge zwischen der dritten und vierten Rippe seines Gegenübers versenkte.“

Erst jetzt wurde mir klar, wo mein Fehler gelegen hatte. Ich war so fixiert auf meine Vorstellung gewesen, bei Glockenstoner müsse es sich um ein kreatives Genie mit Hang zu einer mittelschweren Depression handeln, dass ich alle anderen Hinweise vernachlässigt hatte. In Wirklichkeit war nicht ich, sondern er gefangen: Ein Soziopath in der Hülle eines attraktiven Mit-Zwanziger-Mainstream-Künstlers. Wie hatte die definitive instagram-influencer-queen of all times to come noch gesagt? Ekelhaft!

Unter dem unbeschreiblichen Kick dieser Erkenntnis spürte ich seinen Stich kaum. Statt die Klinge abzuwischen, stellte er das Messer, einem Mahnmal gleich, aufrecht in die SkyBanane der definitiven instagram-influencer-queen of all times to come, die ihr iPad aus ihrer Cantenue-Street-Bag riss und auf ihren Drink zoomte. „Sorry, Charly, ich lege dir sofort einen Druckverband an, aber erst muss ich diesen gory cherry banana mit meiner community teilen.“

Ich sah den inkognito in der CocoNutSkyAirLounge anwesenden Weltbestsellerautor in einer Hollywoodschaukel einige Meter abseits sitzen. Die Schaukel mit dem Fuß in mäßigem Flow haltend, rief er mir zu: „Statt Kill your darlings lässt du deine Darlings dich killen. Das ist brillant, Junge, äußerst brillant. Aber vermeide überflüssige Partizipkonstruktionen, die kastrieren deinen Stil.“

Ich wollte ihm antworten, aber ein Doppelkinnträger in Polizeiuniform insistierte, dass ich wachbleiben solle und ob ich den Angreifer beschreiben könne. Ich entgegnete, ich sei Autor und er müsse mir nachsehen, dass sich die meisten Dinge in meinem Kopf abspielten. Er nickte, aber ich ging nicht davon aus, dass er verstand, solange mein Debutroman nicht auf dem Markt war. Wie auch?