Von Christiane Labusga
Die LKW vor und hinter ihm sind beklemmend nah. Er muss hier raus, setzt den Blinker und hofft, dass ihn jemand in die Mittelspur hineinlässt. Die morgendliche Rushhour verdichtet die Autokolonne zu einem undurchdringlichen Brei.
Endlich: Eine Lichthupe. Er schert aus, hebt kurz die rechte Hand zum Dank. Hier ist alles etwas übersichtlicher. Und heller.
Nach ein paar Kilometern ruhigen Dahinfahrens, langsam, doch noch ohne Stopps, fährt es ihm wie eine Faust in den Magen: Wie ist er überhaupt auf die Autobahn gekommen? Er kann sich nicht erinnern, wie er sich zwischen die beiden LKW eingefädelt hat. Mann-o-Mann-o-Mann, Winkler, das hätte auch ganz böse ins Auge gehen können.
Er fährt noch ein paar Kilometer, beschimpft sich, dass er ein verschlafener Trödler sei, dumm und unaufmerksam. Ich hätte tot sein können, zerquetscht von den beiden Riesen.
Vielleicht ist er ja tot. Er lacht, komischer Gedanke. Eine Geschichte fällt ihm ein, von Ambrose Bierce, da wird einer gehängt, und im Stürzen/Sterben erlebt er ein ganzes Abenteuer, seine Flucht im Kugelhagel und wie er davonkommt. Vielleicht bin ich ja auch tot, weiter hinten gibt es einen Riesenstau wegen des Unfalls, den ich gebaut habe, und das, was hier passiert, ist nur der Traum eines Sterbenden. Er lacht wieder. Ja, tatsächlich, normalerweise hätte mich ja keiner so schnell in seine Spur reingelassen. Das muss ein Traum sein.
Warum lacht Winkler jedes Mal, wenn er denkt, dass er tot sei? Er grübelt darüber, bis er auf dem Parkplatz vor dem riesigen Bürogebäude zum Halten kommt. Hier ist er einer der unbeliebtesten Mitarbeiter, ein Korinthenkacker, wie ihn seine Kollegen nennen, ein Miesmacher und Griesgram. Weil er sich verantwortlich fühlt. Die Verantwortung, dass alles richtig gemacht wird, sitzt dem Buchhalter im Nacken, lässt ihn alles, was er in die Finger bekommt, prüfen und prüfen und zurückgehen, wenn nur ein Komma falsch sitzt, ein Cent falsch gerundet ist.
Ja, ich bin ein Korinthenkacker. Weil das mein Job ist. Und es macht keinen Spaß, auch wenn mir das jeder unterstellt. Jetzt, wo ich tot bin, kann ich auch mal entspannen. Ist ja alles egal. Genau: Ich werde endlich einmal ich selbst sein!
Er steigt aus, und statt wie üblich in sein Büro zu hetzen, streckt er sich erst einmal gründlich nach der anstrengenden Autofahrt. Die Maisonne scheint ihm ins Gesicht, er lächelt. Das fühlt sich komisch an. Komisch und gut.
Auf dem Flur grüßt er freundlich, fragt nach, ob das Wochenende schön war, nickt und lächelt. Seine Kollegen schauen ihm entgeistert nach. Einer fragt laut: Gab‘s heut‘ Clown zum Frühstück?
Ganz schön keck, denkt er, aber muss selbst lachen.
Er teilt sein Büro mit der hässlichen Elfi, die schon mit 30 die Ausstrahlung einer Frührentnerin hatte. Einige im Haus sagen, das läge daran, dass sie mit ihm das Zimmer teilen müsse. Er denkt, das liegt viel mehr an diesen typischen Büropflanzen, mit denen sie sogar spricht, statt mit ihm.
Guten Morgen, Elfi, gut sehen Sie heute aus, so erholt!
Entsetzen breitet sich auf ihrem Gesicht aus, schnell steht sie auf, greift die kleine Gießkanne und rennt auf den Flur hinaus.
War wohl zu viel des Guten. Er lacht. Aber das kriegen wir wieder hin.
So vergeht der Arbeitstag. Auf dem Heimweg kommt er genau nicht an der Unfallstelle vorbei, da er kurz davor abfahren muss. Ob er etwas in den Nachrichten darüber erfahren wird? Aber das ist natürlich unlogisch, denn in seinem Nach-Tod-Traum gibt es den Unfall ja gar nicht. Ganz schön kompliziert, so ein Leben nach dem Tod. Aber Spaß macht es trotzdem, Winkler grinst.
Zuhause hat seine Frau Angelika das Montagsessen fertig. Reste vom Sonntagsbraten, Kartoffeln, ein Blattsalat. Lecker, aber nicht überraschend.
Angelika, lass uns morgen Abend mal ausgehen. Es gibt da einen neuen Griechen, über den haben die Kollegen heute nur Gutes berichtet.
Angelika reißt die Augen auf: Du hast heute mit deinen Kollegen über einen Griechen gesprochen? Sind die Computer ausgefallen?
Ha, ha, er lacht (und Angelika beginnt sich zu gruseln). Nein, einfach so, in der Mittagspause. Ich hab‘ mich mal in die Sonne gesetzt mit meinem Frühstücksbrot. Das war richtig schön.
Alles läuft, wie er es sich denkt. Als er Angelika anschaut, fragt er sich, ob er seinen Traum nicht auch nutzen könnte, eine kleine Affäre anzufangen. Die neue Chefsekretärin, genau sein Kaliber. Aber irgendwie auch nicht, diese ganze Sache mit Rumflirten und schöne Augen machen, das kann er gar nicht mehr. … Wäre aber doch sicher lohnend, das wieder zu lernen. Vielleicht, vielleicht, es kostet ihn ja nichts mehr. Wie schön ist es doch, tot zu sein!
Er ist das Tagesgespräch und bleibt es noch ein paar Tage, bis sich alle an seine neue Art gewöhnt haben. Er wird mit jedem Tag geübter darin, charmant zu sein. Und tatsächlich zahlt es sich nach einigen Wochen aus. Er wird ins Personalbüro gebeten. Dort sitzt neben der Personalerin auch sein Fachbereichsleiter.
Herr Winkler, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses kleine Gespräch genommen haben. Wie Sie ja wissen, haben wir Sie schon lange für eine verantwortungsvollere Aufgabe im Auge, allerdings gab es da ein paar Hemmnisse, sagen wir mal, persönlicher Art, die…
Er unterbricht: Ich war ein richtiger Stinkstiefel, sagen Sie es ruhig laut!
Herr Winkler, so hätte ich es nicht ausgedrückt, der Fachbereichsleiter lacht, aber Sie haben ganz recht. Wir wollten Ihnen deswegen keine Führungsverantwortung anvertrauen. Wegen des „Vertrauens“ in dem Wort.
Die Personalerin räuspert sich indigniert, sie kann die schlechten Wortwitze des Fachbereichsleiters nicht ausstehen.
Nun ist aber alles anders, auch wenn wir noch nicht verstehen, warum?
Schweigen.
Die Personalerin: Herr Winkler, das war als Frage gedacht. Was ist denn passiert, das Sie so verändert hat?
Ja, ich konnte vor meiner, hm, Veränderung immer schlechter schlafen und habe mich dann in Bücher über Psychologie und so gestürzt, bis mir klar wurde, dass ich den Dingen mehr ihren Lauf lassen muss. Mich mehr rausnehmen, Abstand halten. (Das hatte er sich zurechtgelegt für jeden, der ihn das fragen würde.)
Wunderbar, grätscht der Fachbereichsleiter ein, Sie sind ein echtes Vorbild. Deswegen werden Sie Teamleiter Mahnwesen und bekommen auch die Mentorenschaft für unsere Azubis in der Buchhaltung. Und eine satte Gehaltserhöhung, nach 3 Monaten, wenn alles so läuft, wie wir uns das vorstellen.
Und 5 Tage mehr Urlaub, Winkler streckt dem Fachbereichsleiter die Hand hin.
Gebongt!
Die Personalerin verzieht das Gesicht.
Weihnachten verbringt die ganze Familie in Cairns. Er hat alle eingeladen, zwei Wochen Genuss. Michael hat seine Freundin dabei, Andreas ist solo. Und hat eine Überraschung für die Familie: Nachdem sie es alle schon irgendwie wissen, outet er sich endlich. Und im Sommer will er seinen langjährigen Freund heiraten. Entgegen der allgemeinen Erwartung, ist es Angelika und nicht Winkler, die damit am wenigsten klarkommt. Michaels Freundin ist eine Karrierefrau, die keine Kinder will, und von Andreas ist jetzt auch kein Nachwuchs mehr zu erwarten. Sie geht weinend auf ihr Zimmer. Und zu aller Erstaunen, obwohl sie vom ihm in den letzten Monaten so viel Erstaunliches gehört haben, folgt der Vater Angelika, um sie zu trösten.
Was ist nur in den Vater gefahren, fragen sich die Brüder.
Dann wird er morgen wohl auch cool bleiben, wenn ich ihm sage, dass ich meinen Job gekündigt habe, um Vollzeit-Maler zu werden.
Hm, Michael schüttel den Kopf, ich glaube, das wird bei dem alten Buchhalter doch nicht so gut ankommen.
Aber weit gefehlt. Macht nur, was euch glücklich macht, alle! ist die Antwort Winklers, und auch die Mutter bleibt ruhig, der Vater muss gestern Abend ein Wunder vollbracht haben.
So vergehen die Jahre, Angelika wird doch noch Großmutter, von beiden Söhnen, das Mädchen von Michael hat so blonde Locken wie ihre Mutter und der kleine Mexikaner mit den langen Wimpern, den Andreas und sein Mann adoptiert haben, ist ihr heimlicher Liebling.
Im Job macht Winkler Karriere, arbeitet sich mit Ausdauer, Freundlichkeit und einem Gespür für den richtigen Moment bis zum Geschäftsführer Finanzen hoch. Hier sitzen gewöhnlich Doktoren, bei mir aber die hübschesten Sekretärinnen nicht direkt auf meinem Stuhl, aber doch auf meinem Schoß.
Na gut, nicht wirklich, tatsächlich ist er seiner Frau immer treu geblieben, aber Anschauen ist ja erlaubt. Schlussendlich starb Angelika an einer Kombination aus Lungenentzündung, die sie von einer Bergwanderung mitbrachte, und einer Blinddarmentzündung, die wegen der Lungenentzündung zu lange unentdeckt blieb. Wie spitzfindig. Die Bahn ist frei!
Seinem Schwiegersohn hat er mit seinen Kontakten ordentlich unter die Arme gegriffen, als dieser sich als Unternehmensberater selbständig machte, denn sein Künstlersohn hatte überhaupt nichts von seinem Zahlenverständnis geerbt und war (leider auch in künstlerischer Hinsicht) ein hoffnungsloser Fall, der es nur zu Kneipenausstellungen brachte.
So sitzen schließlich die beiden Söhne an Winklers Sterbebett, er, der sein ganzes Traumleben hindurch belustigt war, hält dies Sterben, haha! für den größten Witz seines Traums und kann sein Lachen kaum zurück halten.
Jungs, es geht zu Ende. Auch der beste Film geht mal vorbei.
Die Söhne schauen betroffen, Andreas beginnt sogar zu weinen.
Jungs, Jungs, Jungs, Kopf hoch, es war doch nur ein Traum. Oder glaubt ihr, ich hätte mir das alles angesehen, was ihr mir da aufgetischt habt, wäre es real gewesen? Die egoistische Schnepfe, die du, Michael, geheiratet hast, wie oft musste ich darüber lachen, wie du dich vorführen lässt, und du, Andreas, meine Güte, wie kann man nur so ein Versager sein, so durch und durch! Von mir hast du das nicht.
Und Winkler stirbt. Diesmal wirklich. Und das ist gut so.
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