Von Ursula Kollasch

Ich starre hinaus ins Wintergrau. Kalte Flocken rieseln herab, krallen sich hilflos an Zweigen und Dächern fest.
Heute ist ein schwerer Tag. Ein dichter Nebel hat seine weichen Finger nach meinem Hirn und meinem Herzen, meinem gesamten Körper ausgestreckt und drückt ihn mit solcher Macht nieder, dass es mich schon Mühe kostet, zu gehen, zu sprechen oder den Kopf zu heben. Normalerweise wehre ich mich mit aller Kraft gegen diesen Nebel, versuche, mich normal zu verhalten, selbst zu überlisten, damit es mir besser geht. Heute nicht.
Genau zwei Jahre ist es her, dass mich Bens Lehrerin unter Tränen anrief. Mein Kind sei im Klassenraum plötzlich zusammengebrochen, ich solle sofort zum Krankenhaus fahren.
Das Warten im Klinikflur zermürbte. Sie nahmen eine Notoperation vor. Dann der Schock, als mir die unfassbare Nachricht übermittelt wurde: Ben war tot, die Ärzte hatten ihn nicht retten können. Ein Aneurysma im Gehirn. Eine heimlich tickende Zeitbombe, die explodiert war.
Ich hatte nichts geahnt. Keine Symptome oder Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe bemerkt. War wie jeden Morgen zur Arbeit gehetzt.
Ich weiß nicht einmal, ob Ben und ich uns richtig voneinander verabschiedeten, kann mich nicht an unseren letzten gemeinsamen Moment erinnern. Was hatte ich zu ihm gesagt, als er vor der Grundschule aus dem Wagen stieg? Hatte er geantwortet? Oder war er gleich zu seinen Freunden gelaufen? Wie oft hatte ich mir in den vergangenen zwei Jahren gewünscht, wir hätten uns umarmt.
Erik über Bens Tod zu informieren fiel mir schwer. Mein Ex-Mann und ich waren nicht im Guten auseinandergegangen. Mit leerem Gesicht stand er während der Beerdigung neben mir. Die wenigen Worte, die wir wechselten, sprangen bloß sinnlos hin und her und verloren sich in irgendwelchen Sackgassen.
Als ich schwanger war, hatte er eine Affäre begonnen und sich nur Wochen nach Bens Geburt von mir, nein, von uns beiden getrennt. Später besuchte er ihn nur selten, zeigte wenig Interesse an unserem Kind, ging voll in seiner neuen Beziehung auf. Irgendwann meldete er sich gar nicht mehr.
Letztendlich war es mir recht. Ich konnte die Nähe, den Anblick des Mannes, den ich einst geliebt und dem ich vertraut hatte, kaum mehr ertragen.
Zurück blieben Ben und ich. Wir waren ein gutes Team. Mit der Scheidung begann das unschöne Gerangel um Unterhaltszahlungen, ich ging wieder voll arbeiten, um über die Runden zu kommen. So viel Stress, Hektik, Müdigkeit. Verlorene Stunden, die ich im Nachhinein besser mit meinem Kind verbracht hätte. Wäre mir bewusst gewesen, wie wenig gemeinsame Zeit uns blieb, hätte ich es getan.
Auf den Verlust folgten Trauer, Schuldgefühle, Depression, Arbeitsunfähigkeit. Schlaftabletten. Von letzteren bin ich zum Glück wieder losgekommen.
Dabei geholfen hat mir Chris, den ich im Wartezimmer meines Arztes kennenlernte.
Er weiß über alles Bescheid, hat Verständnis, er drängt mich zu nichts. Wenn Traurigkeit und Verzweiflung mich anspringen, hält er mich fest, hört mir zu. Wenn mich Albträume heimsuchen, in den Nächten, die er bei mir ist, umschlingt er mich und flüstert mir beruhigende Worte ins Haar. Er bringt mich auch zum Lachen, gibt mir den Mut zurück.
Seine Nähe ist wie warmes Wasser, das allmählich den Schmerz der Vergangenheit aus der Wunde spült.
Ich bin mir nicht sicher, was die Zukunft für uns bereithält. Aber ich weiß, dass ich zum ersten Mal seit Langem wieder echte Zuneigung, etwas wie Liebe, für jemanden empfinde.
Chris hat angeboten, den Tag mit mir zu verbringen, mich zu Bens Grab zu begleiten. Doch ich will allein hingehen.

Abends betrete ich das Kinderzimmer. Bens Sachen liegen nach wie vor überall. Ich habe es nicht vermocht, sie wegzuräumen, wegzugeben. Noch nicht.
Ich lege mich in sein Bett. Es riecht nicht mehr nach ihm, doch so kann ich ihm nah sein.
Endlich schließe ich die Augen und komme leichter in den Schlaf, als befürchtet.
 
Ich bin benommen, noch im Schlummer, als ich etwas auf meiner Haut spüre. Wie eine leichte Berührung, es kann aber auch Zugluft vom Fenster sein.
„Mami?“
Ich fahre hoch, mein Herz springt in meiner Brust auf und ab, als wolle es davonlaufen, denn diese helle Stimme kenne ich. Und da ist er. Ben. Er steht neben mir, mit demselben erwartungsvollen, ein wenig ungeduldigen Blick wie immer, wenn er mich aufgeweckt hat. Sein Haar ist verwuschelt, er trägt den Tiger-Schlafanzug, den er am liebsten mochte.
„Mami“, sagt er wieder. Er wirkt so vertraut, so unverändert und lebendig, dass ich mich frage, ob ich mir seinen Tod nur eingebildet habe. Aber nein, es muss ein Traum sein. Ich habe schon oft von ihm geträumt, aber nie war es derart real und intensiv gewesen.
„Hallo, Schatz.“ Ich bekomme die Worte kaum heraus. „Ich bin so froh, dich zu sehen.“
Ich lupfe die Decke, er krabbelt zu mir ins Bett und ich mache Platz für ihn, krümme meinen Körper um seinen, wie früher. Er schmiegt sich an mich.
„Oh, Häschen.“ Ich drücke mein Gesicht in sein Haar und staune, als ich das Kitzeln seiner Haare spüre und den Shampooduft rieche. Das alles ist surreal, doch unglaublich tröstlich.
„Ich habe dich vermisst.“ Jetzt kommen mir die Tränen, derart überwältigt bin ich.
„Sei nicht traurig.“ Er tätschelt meinen Kopf, auf dieselbe ungelenke Art, wie er früher Hunde gestreichelt hat.
„Ich kann nicht anders. Du fehlst mir so.“
Er ist warm in meinem Arm, ein bisschen zappelig. Genau wie ich ihn in Erinnerung habe.
„Ich bin noch da.“
„Ich weiß, ich hab‘ dich in meinem Herzen. Aber du wirst wieder gehen, nicht? Du bist nur gekommen, um … warum? Damit ich mich besser fühle?“
Ich streiche mit den Fingern über seinen Kopf, seine wunderbaren, kleinen Ohren. Er schüttelt mich ab.
„Ich bin gekommen, um dir ein Geheimnis zu verraten.“
„Was für ein Geheimnis?“
Er blickt mich an. Freude – süß und unverfälscht – erhellt sein Gesicht.
„Ich krieg‘ eine kleine Schwester.“
Vermutlich sollte ich nicht überrascht sein, dass mein Ex-Mann und seine neue, junge Frau beschlossen haben, ein Baby zu bekommen. Und doch bin ich es. Entgeistert und auch wütend. Das ist nicht fair, warum verdient Erik, der sich nie um unseren Sohn kümmerte, eine zweite Chance?
„Schön für sie“, murmele ich, obwohl es mir schwerfällt. „Du wirst jetzt ein großer Bruder, das ist toll. Wie soll sie denn heißen?“
„Weiß nicht. Wie willst du sie nennen?“
„Ich? Liebling, ich kann doch nicht entscheiden …“
Dann begreife ich, was er mir gerade gesagt hat. Mein Atem setzt aus, ich schnappe nach Luft. Aufregung erfasst mich. Kann das wahr sein? Ja. Es passt. Seit dem heftigen Gewichtsverlust bekomme ich nur unregelmäßig meine Periode. Mein Körper fühlte sich anders an, in den letzten Wochen, mir war öfter übel, aber ich hatte dem keine Bedeutung zugemessen. Versäumte ich irgendwann, die Pille einzunehmen? Denkbar, bei meiner Fahrigkeit.
Das ist sowohl die beste als auch die schlechteste Nachricht, die ich mir vorstellen kann.
Ich habe noch keinen Job. Chris kenne ich erst seit sechs Monaten. Wird er sich überrumpelt fühlen? Will er überhaupt ein Kind? Ich möchte nicht wieder mit einem Mann zusammen sein, der nicht bereit ist, Vater zu werden.
Nein, so schätze ich Chris nicht ein.
Wie auch immer er reagiert – ich bekomme ein Baby, eine Tochter! Egal, wie schlecht das Timing ist, wie unpassend ihre Ankunft momentan sein mag, sie wird mein Kind sein. Die Freude darüber wird mir über alles hinweghelfen.
Ich drücke Ben fest an mich. Er ist der Einzige, mit dem ich das Glück teilen kann.
„Danke“, flüstere ich. „Ich wusste es nicht.“
„Deswegen hab‘ ich’s dir ja gesagt.”
Ich nicke, küsse ihn auf den Kopf.
„Es ist eine Überraschung… eine echt gute.“
Zeitgleich kommt mir ein erschreckender Gedanke, meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Wird sie … eine Krankheit haben wie du? Wird sie …“
Ich kann die Frage nicht beenden, es tut zu weh. Ben lehnt seinen Kopf an meine Schulter und gähnt.
„Es wird ihr gutgehen. Sie wird nicht krank.“
Er ist so sachlich und abgeklärt für einen Siebenjährigen, ohne jeden Vorwurf, dennoch kann ich das Schuldgefühl nicht abschütteln. Meine Kehle brennt, als ich die Worte hervorpresse.
„Es tut mir so leid, dass ich nicht erkannt habe, was mit dir war.“ Ich schlucke, kann die Tränen nicht unterdrücken. „Ich wünschte, ich hätte besser aufgepasst.“
„Ich musste weggehen.“
„Nein, es war meine Aufgabe, dich zu beschützen. Ich habe es vermasselt.“
Er seufzt, als würde ich nicht verstehen, worum es wirklich geht.
„Wenn ich nicht gegangen wäre“, erklärt er geduldig. „dann würde meine kleine Schwester jetzt nicht in dir wachsen.“
Was? Funktioniert es wirklich auf diese Weise? Ist das Schicksal wahrhaftig so unfair? Um dich auf Umwegen zu einem Kind zu führen, nimmt es dir ein anderes weg? Was für ein grausamer Irrsinn.
Auf einmal fühle ich mich zu schläfrig, um weiter darüber nachzudenken. 
„Benni, als ich dich zur Schule brachte, was habe ich als Letztes zu dir gesagt?“
Er verdreht die Augen. „Was du immer gesagt hast: Hab‘ einen schönen Tag. Ich hab‘ dich lieb.“
Etwas in mir entspannt sich. Eigentlich sollte es nach allem, was passiert ist, nicht mehr wichtig sein, doch das ist es.
„Gut“, murmele ich. „Ich hoffe, dass du das nie vergisst. Ich liebe dich sehr. Für immer.“
„Das weiß ich doch, Mami.“ Er scheint es selbstverständlich zu finden, und das macht mich froh. „Ich hab‘ dich auch lieb.“
Nur ein Hauch an meinem Ohr, dann gleite ich wieder in den Schlaf.
 
Als ich aufwache, ist mein Sohn fort. Er war hier, denke ich.
Es war so echt gewesen, auch wenn ich seinen Besuch nur geträumt haben kann.
Zwischen meinen Armen ist ein Hohlraum. Ich sollte den Verlust fühlen, Leere, Hoffnungslosigkeit. All die Dämonen, mit denen ich kämpfe, seitdem er starb.
Stattdessen verspüre ich Ruhe. Neben der Trauer um mein verlorenes Kind, die ich immer empfinden werde, legt sich ein Gefühl von Zuversicht und Frieden auf mich und hüllt mich in eine Decke aus Wärme.

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