Von Gerd Henze

Erst vor ein paar Monaten stießen Perlentaucher in einer Muschelkalkhöhle inmitten der südwestlichen Sahara auf schriftliche Zeugnisse, die nachweislich aus prähistorischer Zeit stammen. In Rekordzeit wurden diese übersetzt und liefern nun faszinierende Einblicke in die Anfänge der Menschheit. Jetzt ist es bewiesen. Schon von Beginn an trieben außergewöhnliche Individuen mit Wagemut und Erfindungsreichtum die Geschichte des Menschen voran, womit sie unsere Art schließlich auf den Thron der Schöpfung pflanzten.

Die Geschichte der Menschwerdung ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Es wird Zeit, dass wir endlich etwas Licht hinein bringen. Charles Darwin vertrat die Überzeugung, die Entstehung der Arten habe sich über kaum vorstellbar lange Zeiträume hingezogen, wobei gravierende Veränderungen der Lebensbedingungen regelrechte Schübe ausgelöst hätten. Dass aber ein einzelnes einschneidendes, ja geradezu epochales Ereignis die Trennung der Stammbäume von Affe und Mensch besiegelte, so dass erstere heute hinter dem Zaun herumtollen, während zweitere ihren Kot weg schaufeln, hätte sich Darwin niemals träumen lassen.

Wir schreiben das Jahr 7.451.967 vor unserer Zeitrechnung, ein Dienstag, es ist Viertel vor zwei. Adam gähnt wohlig und blinzelt in den blauen Himmel, der sich über dem Blätterdach wölbt. Der Rücken juckt und er rubbelt sich an der bemoosten Astgabel eine Laus aus dem Fell. Dann schlägt er ein Bein über das andere, verschränkt die Hände im Nacken und zählt die Zehen an seinem Fuß. „Tschelp, tschelp, tschelp …“, zwitschert ein Sperling in Endlosschleife. Mehr Abwechslung im Rhythmus und der Mut, auch andere Stufen der Tonleiter zu erklimmen, würden dem Piepmatz die Brautsuche erleichtern. Zu seiner Rechten und von dem Barden gänzlich unbemerkt, frisst eine fette, haarige Raupe einen Halbmond in ein Blatt, der sich bald schon zu einem Vollmond ausdehnt. Adam schnappt nach ihr, der Vogel schreckt auf und fliegt davon. Gelangweilt begutachtet Adam das Insekt. Dann steckt er es sich zwischen die Zähne, beißt zu und lässt sich die nussige Füllung auf der Zungenspitze zergehen. Bäuchlings in der Astgabel über ihm, das Hinterteil verführerisch ausgefahren, fläzt sich Eva, die Arme und Beine vertrauensselig der Schwerkraft überlassen. Er könnte hochklettern, die Gelegenheit ist günstig, doch Eva steht nicht auf Überraschungen und der Chef nicht auf Nebenbuhler. Rundherum schnarchen die anderen der Sippe, gelegentlich eine Flatulenz – nicht jeder verträgt die Rohkost. Unten, am Waldboden, wühlt sich eine Horde Wildschweine durchs Unterholz. Adam lauscht dem fernen Rauschen des Wasserfalls und gleitet sanft ins Reich der Träume hinüber. Wohlig entspannt und nichts Böses ahnend, gleitet er wie ein Klumpen klebriger Brotteig von seiner nicht TÜV-geprüften Lagerstätte im Geäst und strebt ungebremst dem Erdmittelpunkt entgegen, den er vermutlich auch erreicht hätte, wenn nicht ein am Boden grasender Tapir seine Flugbahn gekreuzt und die Fallgeschwindigkeit abrupt auf Null gebremst hätte. Unsanft aus seinem Traum geweckt, glotzt Adam in das in Falten gelegte Rüsselgesicht des als gemeinhin sehr gelassen geltenden Unpaarhufers, der sich, fassungslos und empört über eine derartige Respektlosigkeit, grunzend davon schleppt. Doch auch für Adam und in der Folge für die gesamte Menschheit bleibt diese Kollision nicht ohne Konsequenzen.

Unsägliche Schmerzen schneiden sich durch Mark und Bein. Die Knochen sind wohl nicht gebrochen, haben sich aber irgendwie neu sortiert. Der Rücken fühlt sich plötzlich unangenehm gerade an. Das Becken ist vorgeschoben, die Schultern biegen sich nach hinten. Er kann nicht einmal mehr die Füße hinter dem Kopf verschränken, um sich zum Trost den Schritt zu lecken. „Wenn sich das nicht mehr einrenken lässt, kann ich das Klettern vergessen“, denkt er und schaut ratlos an sich hinunter.

Mond um Mond vergeht, doch sein Zustand bessert sich nicht. Adam kann zwar wieder hinauf in die Bäume kraxeln, doch so unbeschwert wie einst mit der Sippe durch die Wipfel schwingen ist nicht mehr drin. Bis er einen Ast voller Früchte erreicht, haben ihn die anderen bereits leer gefressen. Dafür überragt er sie nun allesamt am Boden – selbst den Chef. Er schaut über die Gräser und Büsche hinweg und er hat die Hände selbst beim Laufen frei, was ihn allerdings mehr irritiert, als dass er Nutzen daraus schlagen kann.

So sitzt Adam nun, ausgezehrt und von der Sippe gemobbt, auf einem Fels und schaut in den Abgrund. „Nur einmal vornüber beugen und es ist vorbei“, überlegt er. „Für Behinderte ist in dieser kalten Welt kein Platz.“ Plötzlich hört er einen Zweig in seinem Rücken knacken. Er dreht den Kopf und bemerkt Eva, die sich an ihn heran schleicht. Sie bringt ihm Feigen und Äpfel und lächelt ihn an, die Zangen eines Hirschkäfers zwischen den Schneidezähnen. Während er isst, untersucht sie neugierig seinen verunstalteten Körper. Das vorgeschobene Becken stellt sein Geschlecht obszön zur Schau, doch das scheint Eva nicht zu stören. Ganz im Gegenteil wieselt sie unruhig um ihn herum. Schließlich macht sie ihm ein Angebot, das er unmöglich ablehnen kann.

Gleich beim ersten Stoß schlüpft er weiter hinein, als es irgendjemand zuvor vermocht hätte. Von der Intensität überrascht, seufzt Eva auf. Unsicher zieht er sich zurück, doch sie gibt ihm ein Zeichen, dass er weitermachen solle. Also setzt er erneut an und gründelt nun fleißig – sehr zu Evas Wohlgefallen. Selbst als es gegen Ende hektisch wird, gleitet er nicht, wie früher häufig geschehen, aus dem Befruchtungskanal. Erschöpft wälzt sich Eva auf den Rücken und grinst die Wolken an. Er reicht ihr ein Büschel Hanfhalme, die sie zerkauen. Dann schleicht sie sich zurück zur Sippe. Verträumt beobachtet Adam eine Herde Gnus, die unten in der Ebene durch den Fluss schwimmen. Das Letzte ist noch nicht drüben, da hört er hinter sich wieder ein Rascheln im Gebüsch. Sara schleicht sich an ihn an. Sie senkt den Blick, den Arm ausgestreckt, eine Ananas auf dem Handteller.

Auf Sara folgen Rebekka, Dina, Debora, Hanna, Judit und Ester, die Adams Manneskraft an ihre Grenzen treiben. Hilfesuchend wendet er sich an die anderen Männer der Sippe und erzählt ihnen von seinem Sturz und wie ihn dieser verändert hat.

Angestachelt von den unerwarteten Folgen eiferten viele Adam nach, scheiterten aber kläglich. Nur die Stärksten überlebten und so verdanken wir Adam, seinen Nachfahren und einem Tapir, der zur rechten Zeit am rechten Ort graste, den aufrechten Gang.

 

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