Von Christian Günther

Das Messer mit der langen Klinge. Ein gedrohtes »Dich schneid ich in Scheiben«. Blitzartig stieß er nach vorne. Zwei Schüsse stoppten ihn. Geschrei vor Schmerzen. Auf dem Asphalt liegend, sich das Bein haltend. Mitten im Essener Stadtteil Kettwig nahe dem Stausee. Der Wind ließ Laub durch die Straße wehen und es begann zu nieseln.

*

Alleine in unserem Büro. Irgendwie fühlten sich Judith und ich nackert. Die Dienstwaffen und die Bodycams bewahrte aus Neutralitätsgründen eine Velberter Kollegin auf. Sie wiesen den Angriff nach und sollten das eigene subjektive Gefühl der Notwehr objektiv bestätigen.
Im Gegensatz zum Film passierte die Schussabgabe in der Realität deutlich seltener. Hier hatte es zu einer Verletzung noch unbekannten Ausmaßes geführt.
Einen Menschen zu töten, belastete noch mehr. Es ging nicht darum, was er Böses getan hatte. Er hatte sicher Angehörige, die um ihn trauerten. Am schlimmsten dabei, dass es nicht rückgängig zu machen war. Nur fiktive Leichen konnten wieder aufstehen. In Filmen steckten die „Helden“ es oft mit einem Schulterzucken weg.
Mir war es einmal passiert, vor noch nicht allzu langer Zeit. Die Aufarbeitung der Ereignisse war nur mit professioneller Hilfe möglich gewesen. Es klang im ersten Moment sogar erleichternd, attestiert zu bekommen, in der schwierigen Lage nur vier Schüsse abgefeuert, und nicht das ganze Magazin leergeballert zu haben. Nur einer davon war der Treffer gewesen. Es hatte keine negativen beruflichen Konsequenzen gehabt. An der Tatsache, ein Leben ausgelöscht zu haben, änderte dieses jedoch nichts.
Judith kannte dieses Gefühl nicht, zumindest nicht selber erlebt. Sie sah zu mir hoch, versuchte ein tapferes Lächeln. Gut fünfzehn Zentimeter Größenunterschied, den wir ausgleichen mussten. Wir sahen uns direkt in die Augen. Ihre braunen wirkten nachdenklich.
»Du kannst reden, Judith«, ermunterte ich sie, während ich über ihr langes blondes Haar streichelte. Privat trug sie dieses lieber offen, im Dienst Pferdeschwanz. Aus praktischen Gründen, bei aufkommendem Wind oder beim Rennen konnte eine Sichteinschränkung unangenehme Folgen haben.
Sie neigte ihren Kopf zur Seite und schloss die Augen. Nicht nur diese waren jetzt auf der gleichen Höhe! Das Reden musste warten. Sie benötigte zunächst eine andere Art der mündlichen Zuwendung.

*

»Wir haben einen Menschen verletzt, Nick«, meinte Judith traurig.
»Ja«, antwortete ich zunächst knapp. Eine Pause entstand. »Er hat uns angegriffen. Dich, genauer gesagt.«
»Du hast auch geschossen, Nick.«
»Sicher, Judith.«
Sie schwieg.
»Wir konnten uns nicht absprechen. Ich sah Dich nicht mehr, wusst nur, wo Du etwa warst. Standst vorher neben mir, warst zurückgewichen. Doch Du warst in Gefahr, das war mir bewusst.«
»Er hätte zu Dir abbiegen können.«
»Ja. Ich wusst nicht, ob Du schießt.«
»… oder überhaupt noch schießen kann.«
»Richtig! So war es beinahe gleichzeitig.«
»Ob wir ihn schwer verletzt haben, Nick?«
»Ich glaub, wir haben das Bein getroffen.«
»Wir beide?«
»Eventuell, mindestens.«
»Was, wenn der …?« Sie stockte.
»Was meinst Du, Judith? Dass der nicht mehr richtig laufen kann, jetzt?«
»Das wär noch das kleinere Übel. Der hat einiges Blut verloren, oder nicht?«
Nun schwieg ich. Der Krankenwagen war mit Blaulicht davongebraust. Ändern konnten wir nichts mehr. Die Zeit zurückdrehen, war unmöglich. Wir mussten zu dem stehen, was wir getan hatten. Was wir in der Situation für richtig hielten. Was nun objektiv überprüft wurde. Was zu einem Ergebnis führen würde. Entsprach es dem, dessen wir uns bisher sicher waren? Warum kamen mit zunehmendem Abstand Zweifel auf? Bei Folgeschäden sprachen wir von einer schweren Körperverletzung, die wir jemandem zugefügt hatten.
»Ich könnt Automechanikerin werden«, fuhr Judith fort. »Das wollte ich zuerst, vor der Polente.«
»Auf keinen Fall, Judith! Wir brauchen gute Polizistinnen wie Dich. Fährst doch lieber, als zu reparieren.«
»Was wolltest Du einmal werden, Nick?«
»Weiß nicht. Hatte keine anderen Pläne.«
»Zum Glück haben wir Bilder von der Kamera. Der stürmte plötzlich zu mir hin, der Abstand wurde immer kleiner, trotz Zurückweichen. Ich hab es wie in Zeitlupe vor Augen, und doch warn das bloß Sekundenbruchteile. Dann hat es zweifach geknallt und der lag auf dem Boden, vor Schmerz schreiend. Nur: Warum?« Sie schluckte. »Warum hat der das getan, ist auf uns los? So grundlos?«

*

»Es liegen erste Erkenntnisse vor«, teilte der Kollege Petersen aus Velbert mit. Er leitete das dortige Revier. »Das Wichtigste zuerst, der Betroffene hat die OP gut überstanden. Die Schüsse trafen den Oberschenkel und die Kniescheibe.«
»Er lebt«, bemerkte Judith erleichtert, »aber er wird sein Leben lang massive Folgeschäden haben. Wissen wir, wer ihn wo getroffen hat?«
»Die Kniescheibe ließ sich Ihrem Schuss zuordnen.«
»Toll«, seufzte sie. »Er ist noch so jung: Sechzehn!«
»Pro Forma wurde ein Verfahren gegen Sie beide eingeleitet, da es ein Offizialdelikt ist. Paragraf 340 Strafgesetzbuch, Körperverletzung im Amt. Zuständig ist die Staatsanwaltschaft Wuppertal.«

*

In der Aktuellen Stunde des WDR wurde mit verschleierten Identitäten über den Ausgang berichtet. Gerade gab der Anwalt des Jugendlichen vor dem Gerichtsgebäude ein Statement zum Prozess ab: »Was ist das für eine Polizei? Zwei Beamte werden nicht mit einem harmlosen Jugendlichen fertig, der nur etwas Unüberlegtes getan hat? Sie, mit Schutzwesten bekleidet und mit Pistole bewaffnet, schießen ihn, der nur ein Messer hat, einfach zum Krüppel? Nicht nur einer, alle beide, sogar der Unbeteiligte! Die dürften nie wieder in den Polizeidienst zurückkehren! Sind hier doch nicht im Wilden Westen …«
»Nö, der fängt gleich hinter Hamburg an«, murmelte ich verächtlich. »Wer sagt denn, dat der mit ‘em Messer de Weste trifft und nich ‘nen Arm oder dat Gesicht? Harmlos? Die Jugend von heut kann sehr brutal sein, wie die allgemeine Gesellschaft. Et verroht einiges in Deutschland.«
»So einfach is dat für Dich?«, schrie Judith mit Tränen in den Augen den Fernseher an. »Elendiger Rechtsverdreher! ‘n glitschiger Typ, der war mir vor Gericht schon zuwider … und wat der für blöde Fragen hatte! Als Auswahl für seine geistige Flitzekacke nur dat Beispiel, ob Du Deine Brille richtig geputzt hättest vor ‘em Einsatz.«
»Jau, dat war echt krass.«
»Dat der Junge Drogen intus hatte und nix für seine Tat könne. Na, janz dolle! Ballert sich ‘en Verstand wech und will noch belohnt werden? Besser gesagt, entschädigt werden?«
»Wegen sei‘m Angriff gibt et ‘n separates Verfahren.« Ich griff besänftigend nach Judiths Hand. »Da muss er sich verantworten. Widerstand, der Angriff, versuchte Körperverletzung. Wir ham Aufnahmen, gibt Richtwerte. Der Junge war so nah dran, unter fünf Meter, selbst bei mir. Alles ging klar von ihm aus. Um unsere Notwehr, darum ging et hier. Juristisch ham wa einwandfrei gehandelt.«
»Ja, juristisch schon«, stimmte Judith zu und zog die Nase hoch. »Dennoch tragen wir wat Belastendes mit uns rum. Wen interessiert dat? Ich kenn Dei’n Fall, Nick. Der Kerl damals war echt böse, der wollt mir wat tun. Aber wie muss dat den Kollegens gehn, die in so ‘ner Situation wie unserer zwar juristisch korrekt handelten, aber tödlich trafen? Und wie denen, deren Kameras nicht eingeschaltet waren? Ohne die Cams hätt dat bei uns völlig anders ausgehn können. Ob wir dann noch bei de Polente wärn? Und seine volle Strafe bekommt der Typ sowieso nicht, wegen sei‘m Zustand zur Tatzeit.«

 

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