Von Matthias Herrmann

Ja, so krass hatte schon lange keine Woche mehr für Hans begonnen. Erst hatte ihm heute Vormittag sein Chef eröffnet, dass er ihn endgültig aus dem Kundenkontakt nehmen und in die Transporter-Wartung verbannen müsste. 

„Versteh mich nicht falsch, Hans, aber da kannst du keinen Schaden anrichten. Die Leute kommen heutzutage nicht mehr mit deiner Art klar. Gerade wenn wir uns jetzt im Vertrieb wieder mehr auf das Luxussegment fokussieren.“ 

Der Chef mochte ihn, und er war ja auch ein guter Kfz-Meister, den es zu halten galt, aber die ständigen Streitereien mit der Kundschaft passten einfach nicht mehr in die Zeit. Hans schaute den Chef traurig an, doch innerlich jubelte er. Die Schnösel mit den Swarovski-Kühlergrills konnten ihn mal kreuzweise!

Und dann kam am späten Nachmittag auf FOCUS online die Nachricht herein, dass Michael Schuhmacher endlich, endlich, endlich nach über zwanzig Wochen aus dem Koma erwacht war. Wenn Hans daran dachte, traten ihm sofort wieder die Tränen in die Augen. Seit dem Eintreffen der Nachricht hörte er in Dauerschleife in seinem Hobbykeller, nicht mehr nur traurige ABBA-Songs wie zum Beispiel Fernando oder Knowing me, knowing you, sondern endlich auch wieder Waterloo und Dancing Queen! Ja, so was! Michael! Hans wusste gar nicht, wohin mit sich. 

Damals Ende Dezember, als er von Michaels Unfall gehört hatte, war für ihn klar, dass er Silvester ausfallen lassen musste. Seine Frau Monika hatte ihm angeboten, zusammen einen Rosenkranz für Michael Schuhmacher zu beten, doch Hans hatte sich nur erschüttert 

abgewandt. 

Sie sollte seine totale Trauer nicht bemerken und möglicherweise erkennen, dass er den Rennfahrer mehr liebte als sie, denn er wusste nicht, ob er auch so trauerte, wenn sie verunglückte. Wenn sie zum Beispiel auf dem winterlichen Weg hinunter in das Tal und dann hinauf zur katholischen Kirche ausrutschte und mit dem Kopf gegen einen Basaltstein schlüge und nicht mehr aufwachte. Ja, und wie wäre es umgekehrt: Wenn er heute, so wie damals vor 15 Jahren, als er am Tag der Geburt seines Sohnes Justin, mit einem Formel-3-Boliden gegen eine Betonwand knallte und nicht überlebte, sondern verstürbe? Würde sie dann so heftig über ihn trauern, wie an dem Tag, an dem Bruder Elmar sie als Vorsitzende des Kirchenvorstands über den Tod des Gemeindepfarrers informiert hatte? 

Er wollte das alles damals im Winter nach Michaels Unfall gar nicht so genau wissen. Denn vielleicht waren sie beide ja auch auf eine komische Art quitt, überlegte er. 

Jetzt klopfte es an die Tür des Hobbykellers. Schnell setzte er seine Sonnenbrille auf.

„Ja! Herein!“ rief Hans laut, um ABBA zu übertönen.

Es war seine Tochter Jeanette: „Die Mama hat gesagt, du sollst noch den Rasen mähen, weil morgen Oma und Opa kommen.“

„Ja! Ja!“ schrie er heftig mit verzerrtem Gesicht, was seine Tochter offenbar missverstand, denn sie knallte die Tür schnell wieder zu. 

 

Es war dieses Jahr ein sehr verregnetes Frühjahr gewesen. Der Regen erinnerte Elfi an die Frühjahre ihrer Kindheit im Harz. Doch trotz des Regens hatte sie für Samuel und Martha, ihre beiden Kinder, die Schaukel am Walnussbaum befestigt und die Spielhütte neu gestrichen. 

Also, was wollten die beiden eigentlich? Hatte eine Mutter nicht auch mal das Recht auf etwas Ruhe? Seit sieben Stunden war sie allein mit den Kindern zugange. Luca fuhr um sieben los nach Frankfurt ins Büro und kam erst um acht nach Hause. 

Elfi lag auf der Couch und ließ ihren Blick über die elf Fenster des Wohnzimmers gleiten, die jeweils einen Ausschnitt des Bergwaldes zeigten. Nur unterbrochen von Mimis Haus gegenüber, der Villa Gertrude. Benannt nach seiner verstorbenen ersten Frau. Mimi kam aus Italien und weil er die schönsten Dahlien des Dorfes hatte, war der Dahlienkönig des Ortes. 

Elfi dachte daran, dass ihre Mutter sie Vormittage lang eingesperrt hatte, wenn sie in den Salon musste und der Kindergarten zu war. Sie war allein gewesen. Hatte es ihr geschadet? Sie war allein gewesen und es hatte keinen Fernseher und nichts gegeben. Ihre Kinder hatten wenigstens einander. Der Garten war gigantisch. Sie hatten eine Spielbude, die Schaukel, den Kaninchenstall und überhaupt. Irgendwie war sie immer noch alleinerziehend. Antoine war in Nigeria und hatte sich seit Wochen nicht gemeldet. Ob er keine Zeit oder Lust hatte, wusste sie nicht. Die Trainerstelle war seine Chance und sie hatten vereinbart, dass ihn die beiden Kinder in den Sommerferien besuchen sollten. 

Samuel war der hartnäckigere der beiden. Er stand jetzt draußen vor der Terrassentür und starrte sie durch die Glasscheibe an. Martha dagegen nahm das Ausgesperrtsein eher pragmatisch. Sie fütterte die beiden Kaninchen und versuchte Samuel von der Scheibe wegzulocken, in ein Spiel zu verwickeln. 

„So, jetzt reicht´s aber, mein Früchtchen“, schimpfte Elfi, stemmte sich vom Sofa hoch und schloss den Vorhang. Was konnte dieses Kind starren!

 

Hans mähte inzwischen den Rasen. Es machte ihn wütend, als er sah, dass Samuel und Martha auf dem Nachbargrundstück wieder draußen spielen mussten. Immerhin war der Winter vorbei. Und wenn er diesen Staat nicht so hassen würde, hätte er schon längst das Jugendamt informiert. Eigentlich sollten ihm die beiden Blagen egal sein. Es waren Antoines Kinder und als Antoine sein Trainer geworden war, hatte er mit dem Kicken aufgehört. 

„Unter einem Schwarzen kicke ich doch nicht“, hatte er erklärt und seine Fußballschuhe, die Stutzen und das Trikot vom VfR 33 in die Restmülltonne geworfen.

Erstaunlicherweise war der Rasenmäher nach der Winterpause bereits nach drei Fehlzündungen angesprungen. Hans legte los, schoss mit dem Gerät über den Hang hinauf bis zu den Grenzbirken und wieder hinunter zum Haus. Doch dann ging es wieder los. Wie im letzten Jahr. Obwohl er das Teil im Herbst komplett auseinandergenommen, durchgefettet und eine neue Zündkerze spendiert hatte. Der Motor fing wieder an zu spotzen und stottern, heulte noch einmal auf, um dann ganz still zu werden. 

„Das ist doch Sabotage! Dreckskarre, verdammte! Miststück. Scheiße. Scheiße. Scheiße!“ 

Samuel und Martha standen am Zaun und kicherten sich über den Mann kaputt, der da so rumkrakelte und tobte. Ratsch. Roar. Ratsch. Roar. Wieder und wieder reißt Hans am Seilzug. Er schnauft. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Schwer atmend steht er vor dem Rasenmäher. Ein letztes Mal. Ein letzter Versuch. Er hängt sein ganzes Körpergewicht hinein, so dass der Mäher einen halben Meter vom Boden abhebt und endlich, als würde ihn das Fliegen befreien von irgendeiner blockierenden Erdenschwere explodiert das Benzin-Luft-Gemisch in der Brennkammer. Einmal! Zweimal! Hunderttausendmal! Noch im Landen stürzt Hans los. 

Steine, Äste, Wurzeln. Alles scheißegal jetzt! Er rast los. Nürburgring Nordschleife! Michael! Oh, Michael! Hans fegt über die Wurzeln der Birken, die Messer rasen über das Holz, schnitzeln, häckseln, raspeln Scheite und Späne ab, kleine Spießchen, die aus dem Wurfrohr des Mähers auf die Wiese prasseln. 

 

„Vorsicht!“ schreit Martha noch und reißt Samuel herunter. Der Holzspan schlägt im Beet mit dem Frühsalat von Elfi ein. Die Kinder können nicht mehr. Sie kugeln sich auf dem Boden vor Lachen. Hahaha! Der kleine, dicke, verrückte Mann. Er ist sooo lustig! Doch Hans bemerkt die beiden gar nicht mehr. Denn plötzlich jault der Motor auf. 

„Wiii! Wiii! Wiii!“ 

Er sitzt an einer Wurzel fest. Das Messer hat sich festgefressen. 

„Uuhu! Uuhu! Uuhu!“ heult der Mäher.

„Miststück! Drecksstück! Verdammtes!“

Monika macht das Küchenfenster zu. Sie will in Ruhe die Messe auf Radio Horeb hören, während sie das Abendbrot zubereitet. 

 

Drüben im anderen Garten kugelten Martha und Samuel durch das Gras. Und lachten sich kaputt. Sie lachten wirklich noch eine ganze Weile, nur als der Mann plötzlich vor dem Mäher kniete und dann auf ihn fiel und der Motor erstarb und kein Geschrei mehr zu hören war, fingen sie an sich zu wundern. 

„Hallo! Herr Nachbar!“ riefen sie. Doch der Mann lag nur still auf seinem stillen Rasenmäher. 

Sie liefen zur Terrasse und klopften gegen die Scheibe, doch Elfi war gar nicht zu sehen. Vermutlich hatte sie sich eine Wanne eingelassen. Das bedeutete, dass sie, bis es dunkel werden würde, im Garten bleiben mussten.

 

Monika wunderte sich: Wer sollte um diese Zeit klingeln? Hans konnte doch durch seinen Hobbykeller nach oben kommen. Die Kinder waren in ihren Zimmern. Bestellt hatten sie auch nichts. Und Drückerkolonnen gab es ja nicht mehr. Vielleicht die Spendensammler von den Maltesern? 

Monika öffnete die Haustür. Im Radio endete gerade die Abendmesse: „Es segne euch der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“ 

Vor ihr standen Martha und Samuel. Der Junge starrte das Plakat an, das hinter Monika an der Schmalseite des Flurs hing. Es zeigte einen Jungen, etwa in seinem Alter, mit Irokesenschnitt und einer schwarzen Lederjacke. Der Junge blickte den Betrachter direkt an und zeigte ihm den Mittelfinger. 

„Was ist denn los?“, fragte Monika ziemlich genervt. Sie hasste es, den Abschlusssegen zu verpassen. Martha zeigte hoch zu den Grenzbirken, dort wo Hans, auf dem festgefahrenen Rasenmäher lag. 

 

„Was machen die denn für einen Lärm!“ Es war einfach unfassbar. Konnte sie denn nie ihre Ruhe haben? Elfi stieg aus der Wanne, wickelte sich ein Handtuch um und ging vorsichtig an die beschlagene Badezimmerscheibe. Sie konnte nicht genau erkennen, was draußen vor sich ging, aber es war sehr laut, groß und gelb. Und es landete jetzt in ihrem Garten! 

„Meine Güte, die Kinder!“ schrie sie und riss das Fenster auf. Ein heftiger Windstoß warf sie fast um. Sie musste sich am Fensterrahmen festklammern. 

„Seid ihr den verrückt geworden!“ brüllte sie dem Notarzt hinterher, der jetzt aus dem Helikopter sprang und auf das Nachbargrundstück rannte. Hinter sich zwei Sanitäter mit einer Bahre. 

Und jetzt bemerkte sie auch Monika, die dort oben stand, wo der Notarzt hingerannt war und das Monika Martha und Samuel an der Hand hielt. Links und rechts. 

 

V1 – 9963