Von Marco A. Rauch

Madison, Wisconsin. 1967.

Surrende Neonröhren fluten den Raum mit kaltem Licht. Fast wie ein Klassenzimmer wirkt es hier, wäre nicht der Wärter. Neben der Tür lehnt er an der Wand, die Arme lässig über der Brust verschränkt. An seiner Hüfte Schlagstock und Pistole. Einfache Tische stehen in mehreren Reihen, doch sie können das abgenutzte grüne Linoleum nicht verdecken. Unvermittelt denke ich an Trakt E, Raum 34. Bei einer Führung konnte ich ihn riechen, den versammelten Gestank von Schaulust und Qual, eine Mischung aus Schweiß und verkokeltem Fleisch. Tief in die Mauerfalten eingeätzt, absondert er bis in alle Ewigkeit. Und an einer Wand, auf einem Podest, thronte er. Das Holz speckig und hart abgewetzt, ein schauriges Mahnmal vergangener Tage. Old Sparky, so nennen sie ihn hier. Unter ihm, das gleiche abgenutzte Grün. 

Gänsehaut kriecht meinen Rücken hinab, kurz schüttelt es mich. Dann gleitet mein Blick zu ihm. Ich sitze ihm schräg gegenüber, mustere ihn unauffällig. Sein Blick ist auf den Tisch gerichtet, während der Anwalt ihm letzte Anweisungen ins Ohr flüstert. Was soll es sonst sein? Es geht um alles. Ich bin geladen, um ein Statement abzugeben, als Betroffener, Hinterbliebener. Doch ich spüre den Widerwillen gegen das, was hier vielleicht beschlossen wird. Widerwille gegen beides, ich wünsche ihm weder das eine noch das andere für das, was er getan hat. Er soll brennen. Hunderttausend Jahre lang!

»Verehrte Anwesende, wir sind heute zum Parole Board zusammengekommen, um über das Gesuch von Wilfried J. Kox zu befinden, seine Haftstrafe auf Bewährung auszusetzen. Er wurde vor 8 Jahren verurteilt, unter Alkoholeinfluss mit seinem Automobil zwei Fußgänger überfahren zu haben, die dabei zu Tode kamen. Das Gericht verurteilte ihn zu mindestens 8, höchstens 52 Jahren, mit der Möglichkeit, um Aussetzung auf Bewährung zu ersuchen. Ich sehe, ein Angehöriger der betroffenen Familie ist heute anwesend. Danke, dass Sie gekommen sind. Ich erteile dem Herrn Anwalt das Wort.« 

»Herr Vorsitzender, verehrte Anwesende, mein Mandant hat seit seiner Inhaftierung vor 8 Jahren …«

Leere Worthülsen blubbern unaufhörlich aus seinem Mund, fast wirkt es wie ein Bühnenstück. Jesus Christus, Mitarbeit in der Wäscherei, freiwillige Nachhilfe bei Handwerksarbeiten im Rahmen des Programms ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘, Resozialisierung, acht Jahre hervorragende Führung. 

Langsam steigt Nebel auf, wabert geschmeidig, lässt die Worte des Anwalts in weite Ferne gleiten. Wie 1000 Meilen entfernt fühlt es sich an. Ich spüre die Erhebungen auf meinen Armen, Kälte, die mich umringt, wo eigentlich Wärme sein sollte. Der Gedanke an meine Mutter zieht mich zu ihr. Sachte entschwimme ich der Realität, zurück in die Vergangenheit.  

 

»Josef Georg Edwards, du kommst sofort hier runter!«

Der schrille Tonfall lässt mich zusammenzucken. Ich springe vom Bett auf, renne zum Fenster, zerre daran. Mein Vater sieht mich an, er wusste es. Sein Blick ist streng, während er zu mir hinauf sieht. Ich schlucke, winke ihm, als wollte ich nur mal eben durchs Glas unsere Farm bewundern. Oh, könnte ich nur Maus sein, bitte Gott! Langsam gehe ich die hölzerne Treppe hinunter, auf halber Höhe bleibe ich stehen. Meine Mutter sieht mich an, mit einem Blick, der sagt: 100 Jahre Hausarrest!

»Mom …?« 

»Josef Georg Edwards, kommst du wohl her?« 

Es war noch nie ein gutes Zeichen, wenn sie meinen vollen Namen nannte. Ich will da nicht runter, weiß genau, was kommen wird. Sie packt mich am Ohr und zieht mich ins Freie. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Mom, das tut weh!«

»Josef, beantworte die Frage deiner Mutter!« In der Hand hält er die Tageszeitung, fest zusammengerollt. 

»Mom, ich weiß nicht, was passiert ist, ich wollte ihn begraben, ich habs vergessen, es tut mir leid.«

»Oh, das wird es noch, aber nicht, weil du es vergessen hast. Du wolltest unbedingt eines und nun sieh dir das an!« Entschlossen packt sie mein Ohr und zerrt mich mit dem Kopf über die Pappschachtel, die inmitten der sengenden Sommersonne auf der ausgedörrten Wiese steht. 

»Mom, bitte, ich weiß nicht, warum er gestorben ist!« Ich weine losgelöst, mein innerer Schmerz betäubt das pochende Ohr. Wie konnte das passieren? Es folgte keine Tracht Prügel, es folgte ein endlos langer Vortrag, warum ein jedes Leben wertvoll ist und wie mein Anteil der Schuld an Ronnys Tod aussieht, meinem Kaninchen, das ich mir zum sechsten Geburtstag gewünscht hatte. Es starb nach etwa 15 Monaten. 

Der Hausarrest dauerte eine Woche. In der Zeit war ich unerwünschter Gast. Die Kälte, die sie mir entgegenbrachten, die ich spürte, bei jedem Essen und jedem Treffen, war wie 1000 Nadelstiche. Ich zerbrach fast daran. Am Ende der Woche kam sie zu mir, mit einem Stück gedeckten Apfelkuchen. Niemals zuvor weinte ich elendiger als an diesem Tag und die Wärme meiner Mutter spendete niemals wieder mehr Trost als an diesem Tag. Es war eine Lektion fürs Leben. 

 

»Mr. Edwards?« Der Vorsitzende betrachtet mich erwartungsvoll.

Ich sehe zu ihm, mein Blick senkt sich, wandert langsam von seinem zu meinem Tisch, auf den Boden, zu ihm. Er sieht mich an, doch sein Gesichtsausdruck ist … fast schüchtern. Die Frage des Vorsitzenden widerhallt in meinem Kopf wie das entfernte Krähen eines Hahns im Morgengrauen. In mir ringen Wut, Unentschlossenheit, Zweifel. Ich fühle Druck, eine Entscheidung treffen zu müssen. Spontan stehe ich auf, gehe über das abgenutzte Grün auf ihn zu, stütze meine Hände auf seinen Tisch, beuge mich zu ihm. Er senkt den Blick, wirkt … eigenartig verloren, während sein Anwalt mit einer empörten Geste zum Vorsitzenden blickt.

»Das, was Sie durchgemacht haben, 8 Jahre waren es, nicht wahr? Das wünsche ich niemandem. Niemand sollte so lange der Hinterhältigkeit und Brutalität ausgesetzt sein, der Zivilisation entrissen. Aber welche anderen Möglichkeiten gibt es? Folter und Todesstrafe sind bei uns verboten, wie bestraft man jemanden, der das getan hat, was Sie getan haben?« Mein Blick ist ernster als ernst. Wären Gedanken Pfeile, er wäre so löchrig wie Kürbisse nach Schießübungen mit Dads Schrotflinte. Doch ich will ihn nicht tot sehen, noch nicht, ich will etwas anderes von ihm. 

Er blickt zu mir, kurz, wieder zum Tisch. Diese eigenartige Abwesenheit in seinen Augen, ermutigt sie mich? Als hätte er bereits akzeptiert, was noch längst nicht entschieden ist. 

»Welche Strafe gibt es für jemanden, der Leben nimmt? Gewalt ist niemals eine Lösung, für nichts. Ich verstehe, wenn im Gefängnis andere Regeln gelten, aber hier draußen gibt es Gerichte, Anwälte, Polizei, es gelten Bürgerrechte!« 

Wieder hebt er kurz den Kopf, um ihn gleich darauf zu senken. Erneut sieht er zu mir. Meine Augenbrauen senken sich um eine weitere Nuance in Richtung Nase, noch eine, und noch eine. Ich versuche mit aller Kraft, ihn zu einer Reaktion zu bewegen, will sehen, wer da vor mir sitzt, bevor ich mich entscheide. Ich teste, doch er beugt sich. Sieht mich nur an, mit resigniertem Blick, wie ein Schuljunge, dem der Ausschluss droht. Als wüsste er, welche Macht in diesem Augenblick in meinen Händen liegt. 

»Ich war immer dafür, jedem eine zweite Chance zuzugestehen, aber manche Menschen verdienen keine zweite Chance. Manche Menschen verstehen keine zweite Chance. Sie denken, sie bekämen immer noch eine und noch eine, immer und immer wieder!« 

Seine Augen senken sich, ich spüre Energie in meine Hände fließen. Sie wünschen sich, einzugreifen, einmal nur von Sinnen sein, nur einmal Grenzen überschreiten. Meine Augenbrauen rutschen noch eine Spur tiefer in Richtung Nase, während ich auf seine Haare starre. Er hebt den Kopf, in seinen Augen sehe ich Furcht. Gefällt mir das? Ich atme tief in die Lunge, versuche, meinen Herzschlag zu verlangsamen, den mein innerer Konflikt jagt wie Wölfe das Rotwild. Mir ist, als könne man das atemlose Trampeln bis nach Tennessee hören. 

Ich sehe in seine Augen und lege all meine fordernde Ernsthaftigkeit in einen Blick, der ihm unmissverständlich klarmachen soll, was auf dem Spiel steht. »Sie wollen eine zweite Chance? Glauben Sie, dass Sie es wert sind?« Meine Stimme zischt bedrohlich, während ich zu ihm spreche. Wir sehen uns an und ich bin ganz sicher, er erkennt den innigen Wunsch in meinen Augen, ihn von vier unserer Bullen in Stück reißen zu lassen. 

Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie die Hand des Wärters zur Hüfte gleitet. Von der Decke dringt unruhiges Brummen herab, mischt sich mit dem statischen Surren und die Stille im Raum ist zum Bersten geladen, als warteten alle auf das Umlegen des Hebels, der Old Sparkys brutzelnde Raserei entfacht. Ich schlucke verkrampft, lege all meine bröckelige Entschlossenheit in einen Blick und zische: »Beweisen Sie es mir!« 

Für einen winzigen Augenblick spüre ich ein Zurückzucken, das im Kern unterbunden bleibt. Doch es genügt, schnell gebe ich dem Vorsitzenden meine Empfehlung und gehe zum Ausgang. 

Hastig verlasse ich das Gebäude, bevor ich‘s mir anders überlege. Eine Träne verlässt mein rechtes Auge und läuft unbeirrt das Gesicht hinab. Einen Moment bleibe ich stehen, atme ein paarmal tief durch und wische meine Wange trocken. Ich spüre unerträgliche Schmerzen bei dem Gedanken, dass er freikommt, und gleichzeitig verstehe ich immer deutlicher, wie hart es für meine Eltern gewesen sein muss, mir eine Woche lang die Liebe zu entziehen. Ich musste es nur einen Augenblick.

 

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