Von Ingo Pietsch

Augusta schwebte förmlich durchs Wohnzimmer, das sie am heutigen Tag gründlich gereinigt hatte.
Gesaugt, Fenster geputzt, Möbel umgestellt und die Regale entstaubt. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so glücklich gefühlt, da ihr Mann Roberto Veränderungen hasste und sie jetzt endlich von ihm nach Jahrzehnten das OK bekommen hatte, ein wenig umzugestalten.
Ihr Mann saß am Wohnzimmertisch und hatte den Fernseher eingeschaltet.
Die Lottozahlen wurden gerade gezogen und Roberto starrte voll konzentriert auf den alten Röhrenfernseher.
Augusta trug ein paar frisch abgewaschene Gläser zur Vitrine und erspähte dabei im Flimmerlicht Spinnweben hinter dem Fernseher.
Sie schnappte sich ihren Staubwedel und machte sich daran, hinter dem alten Kasten sauber zu machen.
Ihr Mann lehnte sich vor, um die Zahlen besser sehen zu können, obwohl sie angesagt wurden.
Mit einem Mal ging der Fernseher mit einem Knall aus.
Roberto fasst sich an den Kopf, kniff die Augen zusammen, öffnete seinen Mund und schrie lautlos, ohne dass Augusta es sehen konnte.
Augusta sagte einfach nur „Ups“ und tänzelte davon.
„Wie kann denn ein Fernseher nach dreißig Jahren einfach so kaputt gehen?“, stellte er die Frage in den Raum. „Dann muss ich wohl das Radio einschalten.“
Augusta hatte ein Donnerwetter erwartet und war ganz durcheinander, dass ihr Mann so ruhig geblieben war.
Er hatte zwar leichte Herzprobleme, aber das hatte ihn nie davon abgehalten, des öfteren mal auf den Tisch zu hauen, wenn ihm was nicht passte. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Er schaltete das Radio ein, wartete bis zur nächsten Nachrichtensendung und verglich dann die Zahlen mit seinem handausgefüllten Lottoschein.
Stumm saß er da und blickte erstarrt auf den Zettel, bis Augusta ihn antippte, um sicher zu gehen, ob er nicht wohl einen Schlaganfall erlitten hätte, der ihn bewegungsunfähig gemacht hatte.
„Augusta!“, stotterte er. „Sechs Richtige plus Zusatzzahl!“
Es war zwar noch nicht abzuschätzen, wie hoch der Gewinn genau war, aber ein paar Hunderttausend Euro bestimmt. Der Jackpot an diesem Mittwoch war sehr hoch gewesen.
Roberto sprang mit einer Geschwindigkeit auf, mit der Augusta nicht gerechnet hatte und nahm sie fest in seine Arme. Ihre Augen quollen aus den Höhlen, so fest drückte er zu und sie bekam keine Luft mehr. Erst fürchtete sie, er wolle sie beseitigen, um den Gewinn nicht teilen zu müssen und sah sich schon zerstückelt in einer Tiefkühltruhe liegen. Doch dann ließ sie es geschehen und genoss diesen seltenen intimen Moment. Seit Jahren lief es nicht mehr so rund zwischen den Beiden.
Schließlich ließ er sie los und ging zum Bücherregal hinter der Wohnzimmertür.
„Augusta, wo sind meine Bücher?“ Er drehte sich um: Die Adern an seinen Schläfen traten stark hervor und sein Kopf war so rot, als würde er gleich explodieren.
„Die habe ich heute in den Supermarkt in dieses Bücherregal gebracht. Die waren schon uralt und du hast die ewig nicht mehr angefasst.“ Sie wich einen Schritt zurück, als erwartete sie, dass seine Hand ausrutschte, was noch nie passiert war. Er nutzte immer nur verbale Gewalt, wenn ihm etwas nicht passte.
„Da war die Quittung vom Lotto drinnen. Hat der Markt noch offen?“, wollte er wissen. Seine Augen wanderten nervös hin und her.
„Äh, ich glaube nicht. Erst morgen früh wieder.“
„Dann gehen wir gleich dort hin, wenn sie öffnen und schauen nach, ob die Bücher noch da sind.“
„Und jetzt machen wir noch was Schönes?“, fragte Augusta in Erwartungshaltung.
„Ja, wir gehen jetzt schlafen“, brummte er.
Und da wusste sie, dass der Abend wieder gelaufen war.

So schnell hatte sich Roberto seit dem einen Mal, als er verschlafen hatte und fast zu spät zur Arbeit gekommen war, noch nie angezogen und gefrühstückt.
Er konnte es kaum erwarten, dass die Türen des Supermarktes geöffnet wurden und rannte die Verkäuferin trotz seines fortgeschrittenen Alters fast um.
Er erwiderte das „Guten Morgen!“ der Angestellten mit einem Murmeln und stürmte in den Eingang, wo das kostenlose Tausch-Bücherregal stand.
Augusta entschuldigte sich für das unfreundliche Benehmen ihres Mannes und folgte ihm.
Suchend sah er sich Buchrücken für buchrücken an, konnte aber nur Nora Roberts, Fitzek, Rosamunde Pilcher, Follett und Patterson entdecken. Alles zeitgenössisch.
Augusta meinte: „Ich hatte sie hier unten einsortiert, weil sie so groß und schwer waren. Vielleicht hat sie schon jemand anderes herausgenommen?“
Ihr Mann drehte sich um. Augusta konnte sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitete: Erst Wut, dann Trauer, schließlich Gleichgültigkeit gefolgt von einem Lächeln.
Er umarmte sie: „Das war vielleicht ein Abenteuer! So viel Aufregung tat mir richtig gut.“
Roberto versuchte die Gedanken zu verscheuchen, wie er ihr ein Messer in den Rücken rammte. Aber er hatte sich vorgenommen, nachsichtiger und liebevoller mit ihr umzugehen. Und so wurde aus der einfachen Mordwaffe ein Santokumesser.
Augusta drückte ihn fest: „Das wünsche ich mir doch auch so dolle! In unserer Ehe ist es doch ein wenig ruhig geworden. So routiniert.“
Roberto fasste sie bei den Schultern: „Schön, dass wir uns einig sind. Ich habe das natürlich bemerkt. Aber ich bin nun mal nicht so der Typ, der seine Gefühle so stark zum Ausdruck bringt. Deswegen durftest du doch auch zuhause umräumen. Ich weiß, dass du dich nach mehr sehnst. Aber ich brauchte halt meine Zeit, um mich zu überwinden. Ich liebe dich!“ Vergessen war der Lottoschein, damit aber noch längst nicht. Auch wenn die Wogen damit etwas geglättet waren. Ihm würde schon etwas einfallen, wie sie ihre „Schulden“ abarbeiten könnte.
„Ich liebe dich auch!“, meinte er trotzdem ehrlich und sie küssten sich.
„Ich glaube, mir wird gleich schlecht! Können Sie das nicht woanders machen? Das ist ja schon fast ein öffentliches Ärgernis!“
Roberto funkelte den jungen Mann an, der in einiger Entfernung stand, Blumen auffüllte und Kaugummi kaute.
„Auszubildender Dennis“ stand auf einem Namensschild.
Roberto holte tief Luft: „Als ich in deinem Alter war …“, weiter kam er nicht.
„… da wurde erst das Feuer entdeckt und dann das Rad erfunden. Ja, ja, ich weiß. Und früher musste man für sein Geld noch arbeiten und nicht nur am Handy rumspielen. Habe ich schon oft genug gehört.“
Roberto tastete hinter sich nach einem Buch. Besonders dick, bestimmt ein Follett. Noch besser wäre ein Santokumesser gewesen.
Augusta hieb ihm auf die Finger.
Roberto sah sie an: „Müsste der nicht eigentlich im Kindergarten sein?“
„Und du nicht auf dem Friedhof?“
Jetzt hatte er Roberto auch noch geduzt!
Die Verkäuferin vom Eingang ging dazwischen. „Entschuldigen Sie. Aber Dennis ist manchmal ein bisschen scharfzüngig.“ Wobei sie die Augen verdrehte. „Ich habe selber einen Sohn in dem Alter und ich kann Ihnen sagen, dass es heutzutage wirklich nicht leicht ist.“
Roberto fuchtelte mit seiner Faust, als würde er jemanden erstechen und Dennis antwortete mit einer Fingerpistole, bei der er den Bolzen zog und dann abdrückte.
Dennis verschwand nach dem Unentschieden mit leeren Kartons in Richtung Lager.
„Halb so schlimm. Sagen Sie, sortieren Sie die Bücher regelmäßig aus?“
„Ja, erst gerade eben. Abgegriffene, beschädigte und total veraltete Exemplare schmeißen wir weg. Leider interessiert sich niemand mehr für die Klassiker. Die landen bei uns in der Papppresse.“
In Roberto keimte Hoffnung auf.
„Wo ist denn die Presse?“
„Hinter dem Haus. Warum?“
„Wissen Sie, uns ist nämlich folgendes passiert …“, Augusta endete mitten im Satz, da ihr die Verkäuferin nicht mehr zuhörte, sondern nach draußen schaute.
Mit einer ungeahnten Geschwindigkeit war Roberto von ihr unentdeckt zur Tür hinaus geflohen .

Augusta hatte gerade noch sehen können, wie Roberto um die Ladenecke verschwunden war.
Sie war nicht mehr ganz so fit und holte ihn erst ein, als er schon in die Mulde der Presse starrte.
Tatsächlich lagen seine Bücher gleich ganz vorne darin und er versuchte, sie erst mit den Armen herauszufischen, was ihm nicht gelang, und dann mit einem Brett aus der Nähe hochzudrücken. Aber das gesuchte Buch rutschte immer wieder herunter.
„Du verrenkst dir noch den Rücken! Lass uns drinnen Bescheid sagen.“
„Ich schaffe das schon. Ha, da vorne!“ Roberto erspähte einen Stapel blauer Plastikpaletten, zog ihn zur Presse und kletterte hinein.
Dann kam er nicht wieder heraus.
„Ich hole Hilfe! Bleib, wo du bist und beweg dich nicht.“ Augusta ging so schnell sie konnte wieder zum Eingang, da die Lagertür geschlossen war.
Sie traf auf die Verkäuferin, die mit ihr schnurstracks durchs Lager nach draußen ging.
Da kam ihnen Dennis pfeifend entgegen. Er wirbelte ein Schlüsselband um seinen Finger und die Presse begann ihre Arbeit zu machen.
Kaum wahrnehmbar durch den Lärm der Maschine hörten sie Roberto rufen: „Ich habe ihn! Ich habe ihn!“ und gleich darauf ein langgezogenes „Oh Nein!“.
Die Geräusche waren furchtbar, als die Presse alles zusammenpresste und in sich hineinschob, was sich auf Ladefläche befunden hatte.
„Dennis, was hast getan!?“ rief die Verkäuferin und drückte den Notausschalter.
Kaugummikauend und ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte er: „Den Müll entsorgt.“
Vorsichtig lugten sie in den Behälter.
„Schaut mal, was ich gefunden habe“, sagte Roberto, der um die Presse gelaufen kam.
Augusta und die Verkäuferin schrien auf.
„Was?“, fragte Roberto. „Dennis hat mir aus der Presse geholfen.“
Der tippte sich an die Stirn und ging wieder ins Lager.
Augusta fasste sich ans Herz und drückte dann Roberto.
„Ich habe in dem Buch außer der Quittung noch einen Gutschein vom Valentinstag von mir für dich gefunden. Den hatte ich völlig vergessen. Dann können wir heute Abend Essen gehen. Und Sie“, er sah die Verkäuferin an „und Dennis kommen auch mit.“
Auf den Schreck mussten sie erst einmal lachen, auch wenn ihnen gar nicht danach war.

 

V3