Von Simone Tröger
… Fortsetzung der Geschichte vom März 2025 …
„Amelie, du musst mir bitte beim Schmücken des Weihnachtsbaumes helfen. Das schaffe ich nicht vom Rollstuhl aus. Da kann ich nicht so weit heranfahren. Sonst breche ich die Äste ab.“
Gesagt, aber nicht getan. Amelie, meine Tochter, war längst zur Tür hinaus und widmete sich den Spielsachen in ihrem Zimmer. Sie ließ mich zurück im Wohnzimmer, während ich tiefer und tiefer in mein dunkles Innere versank. Ein anderes Mal, wir waren gerade beim Malen, bat sie mich, eine Katze auf das Papier zu bringen. Damals konnten meine Finger den Stift noch nicht wieder fest umschließen, da sagte sie erneut einen Satz, der mich viel Mühe gekostet hat, einen See aus Tränen auf dem Tisch zu verhindern. „Das sieht ja aus, wie ein Monster!“ Dass ich mir einredete, es könnten auch andere Mütter nicht malen, beruhigte mich nicht. Einmal war ich mit Amelie auf dem Spielplatz. In den Sand konnte ich mit dem Rollstuhl nicht fahren, also zeigte Amelie ihren Sandkuchen voller Stolz der Mama ihrer Freundin, die wir dort trafen. Alles normale Reaktionen. Das weiß ich jetzt. Damals war es in meiner Seele wie bei der Folterung der Hexen in den Mittelalterromanen, die ich früher geradezu verschlang. Meine lange Abwesenheit im Krankenhaus führte zu einer Entfremdung meines Kindes von mir.
Anders war es zum Glück bei Lars, meinem Mann. Er saß fast immer an meinem Krankenbett, wie er mir erzählte und begleitete mich auch in der Aufwachphase meines Komas. Diese Zeit dauerte nicht nur von morgens bis abends. Realität vermischte sich, wie in meinen Komaerlebnissen, noch oft mit Traum. In meinen „hellen“ Momenten, spazierte ich mit Lars und Amelie durch den Wald. Die „dunklen“ Momente verbrachte ich als Rapunzel auf dem Weg zu einem hohen Turm ohne Tür. Als ich wieder bewusst schauen konnte, blickte ich in zwei Augen, die mindestens so warm ausschauten, wie das sonnigste toskanische Wetter; so blau, wie das Meer um Mauritius und strahlend wie der größte Diamant, den man je gefunden hatte. Es war wie vor dreizehn Jahren, als wir uns ineinander verliebten. Ob mir in diesem Augenblick bewusst war, dass sich das Leben von Lars, Amelie und mir ändern würde, ist mir nicht mehr klar. Lars ist das Beste, das mir je passiert ist. Es ist sicher nicht leicht, für einen vor Gesundheit strotzenden fast 40jährigen Mann mit einer Frau, deren körperliche Labilität offensichtlich ist. Meine Liebe zu Lars ist unerschütterlicher, denn je. Er gibt mir das Gefühl, die Zeit im Klinikum, die Zeit im Rollstuhl, alle unwirtlichen und schweren Zeiten weggeliebt zu haben. Mit ihm gehe ich auf eigenen Beinen von Norwegen bis Südafrika; von Japan bis Patagonien. Für seine Gegenwart in meinem Leben danke ich so laut, dass man es von Kalifornien bis Deutschland hören kann „Ich liebe dich!“ (Meine Stimme ist wieder laut und deutlich.)
Nach wie vor schwärme ich dienstlich den Besuchern unserer Region von den umliegenden Wanderwegen vor. Diese führen durch die Natur mit ihren seltenen Pflanzen am Feldrand und den scheuen oder auch neugierigen Tieren auf der Wiese. Dabei vergesse ich nicht die Erwähnung der vielen Einkehrmöglichkeiten.
Die Arbeit beschert mir dreimal in der Woche für je vier Stunden Abstand von Haus-, und Erziehungsarbeit.
Warum das Blutgerinnsel und der daraus folgende Schlaganfall mich lange Zeit aus der Welt katapultiert haben, kann ich nicht sagen und die Ärzte nur vermuten. Höchstwahrscheinlich war mein Blutdruck über längere Zeit erhöht und hat diesen worst case ausgelöst. Das kann nicht nachgewiesen werden. Dass beträfe nur ältere Menschen, dachte ich. Niemals habe ich über diesen Supergau nachgedacht.
Meine Blutdruckwerte wurden vorher zwar selten gemessen, doch ich verspürte keine Probleme, die mich veranlasst hätten, das zu tun. Zudem bin ich ein sportlicher Mensch, und ich ernähre mich gesund.
Das Stresslevel war außerdem im normalen Bereich. Mein Leben war so, wie das von vielen anderen Ehefrauen und Müttern. Jetzt ist es nicht anders zu bewerten.
Regelmäßig lasse ich Blutdruck, Cholesterin, Hirnströme, Blutfließgeschwindigkeit und anderes nach ärztlichem Anraten überprüfen. Bedenkliches konnte man seit meinem Zusammenbruch nie wieder feststellen. Folglich muss ich mich nicht von Medikamenten ernähren.
Physiotherapie ist mein ständiger und wichtiger Begleiter. Manchmal besteige ich die Eiger-Nordwand. Oft geht es durchs Wattenmeer, und dann mache ich nur mal eben einen Strandspaziergang und suche dabei Muscheln.
Schöngeistiges, man könnte es ein Hobby nennen, muss derzeit warten. Man muss Prioritäten setzen!
Inzwischen ist auch das Verhältnis zu Amelie wieder hergestellt. Es kam mir vor, wie die harte Arbeit in einem Steinbruch des vorigen Jahrhunderts. Immer wieder fällt Geröll herunter, und man muss nachschaufeln. Sie ist jetzt ein Schulkind in der ersten Klasse. Regelmäßig bin ich gefragt, ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Es gibt sie noch, die bösen Kreaturen, die sich im Schrank oder unter dem Bett verstecken. Allein die Mama schafft es, sie wegzuscheuchen.“
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„Lange Zeit habe ich um das Leben meiner Frau gebangt. Auf dem Wohnzimmerteppich habe ich sie bewusstlos gefunden. Zunächst dachte ich, sie und Amelie spielen auf dem Fußboden. Doch meine Tochter war nirgends zu sehen. Ah, ein Versteckspiel. Aber Amelie versteckte sich nicht unter dem Teppich. Sondern befand sich glücklicherweise bei meinen Eltern, was sich später herausstellte. Panisch begann ich zu realisieren und zu reagieren.
Mein Chef stellte mich netterweise von der Arbeit frei, damit ich bei meiner Frau im Krankenhaus sein konnte. Meine Eltern und Rahels Mutter – die Mutter meiner Frau – kümmerten sich in dieser Zeit liebevoll um unsere kleine Amelie. Hätte ich meine Familie nicht gehabt, hätte ich mich wie in einem Stamm von mehreren Menschenfressern gefühlt. Alle umlagerten mich. Jeder wollte etwas wissen. Reden wollte ich doch nicht! Sie sollten mich in Ruhe lassen! Es waren so schon genug Stromschläge, die mich erzittern ließen.
Rahel ist aus dem Koma erwacht, und ich dachte, das Leben geht weiter wie bisher.
Als sie mich zum ersten Mal wieder bewusst anschaute, bildete ich mir ein Lächeln auf ihrem Gesicht ein. Ihre Augen, deren Weiß aussahen, als hätten Köche zu viel mit Safran experimentiert, sagten mir, es ist ein Neustart ins Leben nötig. Diese Farbe verblasste im Laufe der Zeit. Es ist wieder so, wie es sein soll.
Rahel hat sich mit ihrem Leben arrangiert. In vielerlei Hinsicht habe ich das nicht.
Beispielsweise nerven mich die gemeinsamen Einkaufsfahrten für Lebensmittel. Da Rahel nicht selbst Auto fährt, muss ich mit. Einige Hausarbeit, wie Gardinen abmachen und aufhängen, bleibt an mir hängen. Zu dem Zweck überlegen wir, eine Haushalthilfe zu haben.
Gänzlich schweigen wir von den ehelichen Pflichten, die nicht mehr so leicht erfüllbar sind, wie früher.“
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„Meine Tochter und ihr Mann – natürlich auch meine Enkeltochter – meistern ihr Leben vorbildlich. Fast nichts unterscheidet Rahel von anderen Mamas. Ballspiele und körperliche Aktivitäten sind zwar rar, dafür punktet Rahel bei jedem Quiz mit überragendem Wissen. Sie benennt alle Sternbilder am Himmel und kennt jede Tierwohnung unter der Erde.“
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„Wir sind alle wieder vereint; wir Mädchen von der Märchenclique. Eines Tages haben wir beschlossen, uns beim Vornamen anzusprechen. Uns scheint das nicht mehr angemessen, Rahel mit ihrem Spitznamen „Rapunzel“ anzusprechen, da sie jetzt eine modische Kurzhaarfrisur trägt.
Die Unternehmungen führen uns noch immer weit übers Land. Unsere Freundin ist dabei.
Manchmal dauert es so lange, bis sie von einer location zur nächsten gelaufen ist, dass man inzwischen von Frankfurt nach Auckland fliegen kann. Doch es ist wunderbar, sie dabei zu haben.“
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„Ab und zu sehen wir Rahel noch, wenn sie uns beim Sporteln zuschaut. Wir glauben ihr, dass es weher tut, als Zahnschmerzen zu haben, dass alles nicht mehr tun zu können. Wenn wir Schwimmen gehen, geht Rahel unter wie ein Tanker mit Leck. Bei Punktspielen im Volleyball, sieht sie die Ziffern an der Anzeigetafel nicht, weil ihr plötzlich eine Mücke ins Auge geflogen ist, die sich nicht wieder herauswischen lässt.
Am liebsten würde sie Tarzan das Autofahren beibringen, nur damit er nicht zeigen kann, wie gut einer klettern kann.
Trotzdem bitten wir darum, uns weiter anzufeuern!“
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„Nun, ich schütte Frau Buschhorn seit geraumer Zeit nicht mehr mit Arbeit zu. Einiges mussten wir umstrukturieren. Eine Hilfe ist sie allemal. Die Besucher unserer Tourist-Information sind hingerissen von ihrer Art, Beachtenswertes am Wegrand zu beschreiben.
Den Kindern erzählt sie von der Käferfamilie, die erst ihr Heim in der Blume bezogen hat, dass sie die Krabbeltiere nicht obdachlos machen sollen. Die Info, wo es eine erfrischende Limo oder Pommes gibt, die den Kindern das Ziel beim Wandern näher heranbringt, liefert sie den Naturfreunden mit.“
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„Meine Mama war gaaanz lange im Krankenhaus. Jetzt ist sie wieder gesund. Das ist gaaanz sehr schön.“
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