Von Renate Müller
Ich meine, Sie müssen das verstehen.
Ich liebe meinen Giorgio.
Mein Giorgio. Ein Bild von einem Mann. Ich weiß, wie sehr andere Frauen mich um diesen Mann beneiden. Und er liebt nur mich. Wir sind jetzt seit drei Jahren verheiratet und immer noch wahnsinnig glücklich. Er ist voller Glut und Leidenschaft, seine Augen verfolgen mich mit Sehnsucht und Verlangen, wann immer ich in seiner Nähe bin. Und wir sind fast immer zusammen. Wir arbeiten zusammen, in Giorgios Frisiersalon. Er ist berühmt in unserer Stadt, alle wollen einen Termin bei meinem Giorgio. Giorgio mit den dunklen, feurigen Augen und der sanften Stimme. Es ist, als würde er mich streicheln, wenn er mit mir spricht. Giorgio, mein Giorgio, mit seinem vollen, glänzenden, pechschwarzen Haar – ich liebe ihn.
Aber ich hasse seinen Kamm!
Alle paar Minuten, immer wieder zieht Giorgio den Kamm aus der Hosentasche und kämmt sich damit seine Haare. Manchmal kommt es mir vor, als würde er ihn sofort wieder rausholen, sobald er ihn in die Tasche gesteckt hat, wieder und wieder, den ganzen Tag. Die Haare, die immer völlig glatt sind, nie verstrubbelt oder zerzaust. Auch der stärkste Sturm schafft es nicht, dass Giorgios Frisur durcheinandergerät. Der Scheitel ist stets perfekt pfeilgerade. Ich glaube, seine Haare wagen es gar nicht, aus der Reihe zu tanzen. Niemals liegt auch nur ein einzelnes Haar nicht dort, wo es sein soll – und dennoch, Giorgio zieht schon wieder seinen Kamm und fährt durch seine Haare. Ich meine, das ist doch manisch, ein Tick, das ist nicht normal.
Ich habe im Guten mit ihm gesprochen, mit Giorgio, beim Frühstück, bei der Arbeit, sogar im Bett, nachdem wir …, Sie wissen schon, weil ich dachte, da sei Giorgio besonders weich gestimmt und ich könnte erreichen, dass er diese Kämmerei sein lässt.
Ich habe gebettelt: „Liebster“, habe ich gesagt, „Liebling, du siehst so gut aus, deine Haare liegen perfekt. Warum kämmst du dich schon wieder?“ Dabei habe ich ihn bewundernd und liebevoll angesehen. Es half nichts. Immer wieder, immer wieder erscheint der Kamm – ich hasse ihn. Ich meine, das hält man doch nicht aus. Das kann so nicht weitergehen.
Also habe ich seinen Kamm weggeräumt, fortgeworfen, in den Müll getan. Er holt sich einen neuen. Schließlich sitzt Giorgio ja quasi an der Quelle, in seinem Salon gibt es Kämme in allen Größen, Formen und Farben. Ich habe seinen Kamm im Garten in den Komposthaufen gesteckt, ganz tief hinein. Giorgio hat einen neuen Kamm. Er wundert sich, wo sein alter geblieben ist, aber er hat einen neuen. Giorgio ist ein überaus ordentlicher Mann, geradezu besessen von Ordnungsliebe, fast schon Ordnungswahn. So sehr, dass er natürlich überhaupt nicht verstehen kann, wie etwas von seinen Sachen, wie zum Beispiel ein Kamm, einfach verschwindet.
„Ich hatte ihn doch hier hingelegt. Ich verstehe nicht, wo mein Kamm ist. Ich kann ihn nicht finden“, sagt er ein ums andere Mal und schaut mich dabei an, als müsse ich ihm helfen können. Aber ich schweige natürlich.
Und trotz aller Verwunderung holt er sich immer wieder einfach einen neuen Kamm aus dem Laden.
Danach habe ich seinen Kamm im Garten vergraben.
Den nächsten Kamm habe ich im Häcksler zerhackt – das war ein gutes Gefühl….
Am nächsten Tag hatte Giorgio wieder einen Kamm.
Ich habe einen Kamm von der Autobahnbrücke geworfen, den nächsten ein paar Tage später auf den Bahnschienen platziert.
Ich habe einen Kamm im Rhein versenkt (das fiel mir schwer, wegen der Umweltverschmutzung, verstehen Sie).
Und jedes Mal, am Nachmittag, wenn im Laden gerade die Hölle los ist, zieht Giorgio einen neuen Kamm aus seiner Tasche, meint noch zu mir, dass es doch merkwürdig sei, dass in den letzten Wochen ständig seine Kämme verschwinden – und zieht sich den ohnehin perfekten Scheitel nach.
Einen Kamm habe ich in der Gefriertruhe eingefroren, einen anderen im Backofen geschmolzen.
In der Nacht bin ich schreiend aufgewacht. Ich kann mich noch an meinen Traum erinnern: ich habe von Kämmen geträumt, Kämme, die mich verfolgen, wie tausend Tausendfüßler sind sie hinter mir hergelaufen, ich konnte rennen und rennen, sie ließen nicht ab von mir.
Ich liebe meinen Giorgio, aber das geht einfach zu weit. Das hält keine Frau aus.
Es muss etwas geschehen. Während Giorgio seine Morgentoilette macht, nehme ich seinen Kamm und träufele Sekundenkleber zwischen die Zinken. 64 Zinken hat sein Kamm, ich habe sie gezählt. Bis Giorgio aus dem Bad kommt, ist der Kleber getrocknet und der Kamm unbrauchbar. Ich weiß, es wird nichts nützen, bis zum Mittag wird er einen neuen haben.
Am nächsten Tag besorge ich mir in der Apotheke Haarentfernungsmittel, mir ist jetzt alles egal, und verteile von der Creme großzügig auf seinem neuen Kamm.
Ich beobachte gespannt, was geschieht, als Giorgio diesen Kamm benutzt. Er ist erstaunt, dass er seinen Kamm dieses Mal länger als einen Tag behalten hat. Ich weiß nicht genau, wie das Mittel wirkt und vor allem nicht, wie schnell. Ein wenig tut es mir leid, Giorgios Haare sind so schön und ich liebe es, mit meinen Händen hineinzugreifen und darin zu wühlen – Giorgio mag das gar nicht und …. Sie ahnen es. Aber es müssen Opfer gebracht werden, wenn ich ein Leben ohne Kamm führen will.
Nur, es passiert nichts, und als ich nach einigen Tagen immer noch keine Veränderung auf Giorgios Kopf feststellen kann, lese ich endlich die Packungsbeilage des Entfernungsmittels: Das Mittel muss großflächig aufgetragen werden und lange Zeit einwirken. Wie soll das gehen, wie soll ich das erreichen? Es ist zum Haare ausreißen.
Beim Abendessen beobachte ich, wie Giorgio den Kamm durch seine glänzenden vollen Haare zieht. Sehnsüchtig denke ich an die Packung mit dem Haarentfernungsmittel, die noch in meiner Hosentasche steckt.
Giorgio löffelt seine Minestrone und lobt mich für die gut gewürzte Suppe: „Du bist die beste Köchin der Welt, meine geliebte Chantal“, sagt er und ich könnte wieder einmal dahinschmelzen.
Da klingelt das Telefon und Giorgio geht in den Flur.
Mir geht die Warnung aus der Packungsbeilage nicht mehr aus dem Kopf. Die Warnung, dass das Mittel giftig ist und man es keinesfalls schlucken oder auf die Schleimhäute aufbringen darf. Es sei besonders gefährlich, da es geschmacksneutral sei und daher versehentlich verschluckt werden könne.
Ich meine, Sie müssen das verstehen, dieser Kämmtick ist wirklich nicht mehr auszuhalten ….
Drei Wochen nach der Beerdigung meines über alles geliebten Mannes kommen seine Brüder, um mir beim Aufräumen und Ausräumen seiner Schränke zu helfen. Wir wollen seine Sachen für einen guten Zweck spenden, das wäre ganz in seinem Sinn gewesen. In den Taschen seiner Hosen, Jacken und Hemden finden wir 37 Kämme!
Ich meine, jetzt verstehen Sie, oder?
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