Von Annika Tomski

Wieder einer dieser runden Geburtstage, an welchen man mit Verwandten zusammenkommt, die man das ganze Jahr über nicht sieht. Wieder ist eine meiner Cousinen schwanger und wieder rennen unzählige Würmchen laut kreischend zwischen den Tischen umher. Wann wohl heute die Bohrerei anfängt? Ein Glück bin ich seit einiger Zeit in männlicher Begleitung, sodass zumindest diese gesellschaftliche Erwartung erfüllt ist. Natürlich wird die Frage kommen:

 

„Wann wollt IHR beiden eigentlich heiraten?“ – Ach, jetzt wo du es sagst. Ist uns ganz entfallen. Na, am besten sofort. Nun gilt freundlich lächeln und dem Fragenenden seine Illusionen lassen.

 

Bis zur Pause zwischen Salat und Hauptgang haben sich meine Nebensitzer auf die Zunge gebissen, doch, nachdem der kleine Maximilian gerade so nett ein Gedicht vorgetragen und die Mami dabei selig ihre Hand über ihren Kürbisbauch gehalten hat, gibt es für meine Tante kein Halten mehr:

 

„Wann ist es denn bei euch endlich soweit?“

 

Ich verdrehe die Augen. Mein Freund zieht wohl wissentlich und auch etwas resigniert den Kopf ein. Es ist ein Fest meiner Familie. Dieses Mal bin ich dran zu antworten.

 

„Das hat noch Zeit“, antworte ich wie immer unverbindlich. Doch so einfach lässt mich meine Tante nicht davon kommen. Vermutlich habe ich diese Antwort inzwischen einmal zu viel verwendet.

 

„Naja, soviel Zeit habt ihr ja nicht mehr“, antwortet sie etwas schnippisch.

 

Herzlichen Dank auch, denke ich. Ich bin 27 Jahre alt. Vielleicht sollte ich mich vorsorglich schon mal über Faceliftings informieren, da mir ja ganz offenbar die Zeit davonrennt.

 

„Ehrlich gesagt, wollen wir gar keine Kinder“, erkläre ich. Mein Freund macht sich noch kleiner auf seinem Stuhl. Er kennt den Vortrag, der jetzt folgen wird, zur Genüge. Vor allem, da kaum, dass ich dies in meiner kinderreichen Familie ausgesprochen habe, man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

 

„Keine Kinder!? Das kann sie nicht ernst meinen!“ So setzt die erste Debatte am oberen Ende des Tisches ein. „Gudrun, das meint sie doch nicht so?“, wird meine Mutter in die Verantwortung gezogen.

 

„Anna, das kommt schon noch bei euch beiden. Spätestens mit 30 setzt die biologische Uhr ein und dann erkennt auch ihr, was das Wichtigste im Leben ist“, fasst meine Cousine netterweise die Standardargumente zusammen.

 

Dieses Thema habe ich so satt. Ich hole tief Luft und spreche mit lauter Stimme, sodass auch die heftigste Auseinandersetzung am Tisch zum Erliegen kommt:

 

„Das kommt schon noch, sagt ihr?! Mein Freund ist 41 Jahre alt. Wie alt genau soll er denn noch werden bis ihm eine fundierte Lebensentscheidung zugetraut wird? Und die verdammte biologische Uhr. Ich führe mit 27 zwei florierende Unternehmen mit 100 Mitarbeitern, habe mehrere Häuser gebaut, führe eine harmonische Beziehung, stehe mit beiden Beinen fest im Leben und habe euch alle zu meinem Geburtstag nach Spanien eingeflogen. Glaubt ihr, das alles wäre möglich gewesen, wenn ich nicht stets gut durchdachte Entscheidungen treffen würde? Wie kommt ihr auf die Idee, dass ich mein selbstbestimmtes Leben für eine willkürliche, von Hormonen gesteuerte Momententscheidung aufgeben würde? Ist das der richtige Grund, um sich für etwas so gewaltiges und weitreichendes wie das Kinderkriegen zu entscheiden? Weil Hormone verrücktspielen? Sicherlich nicht.

Ich wäre euch sehr dankbar und ich könnte diese Treffen wesentlich mehr genießen, wenn ich mich nicht jedes Mal für meinen Lebensstil rechtfertigen müsste.

Habe ich mir jemals herausgenommen euch für euren gewählten Lebensweg zu kritisieren? Zum Beispiel, die liebe Sarah: Sollte man sich tatsächlich, wenn man mit seinen drei jungen Buben total überlastet und überfordert ist und die Kinder ständig bei Oma und Opa abschiebt, auf Anraten eines mittlerweile notwendigen Psychologen, einen großen, haarigen Hund als Stressabbau zulegen? Ist es nicht eher so, dass durch die Haare des Hundes, das mehrfache Gassi gehen am Tag, das Füttern, Putzen, Erziehen usw. noch mehr Arbeit und Stress entsteht?

Oder Susis Argument beim letzten Familienwandertag: Wenn man Kinder in die Welt gesetzt hat, ist man bei einer Scheidung nicht alleine. Sind nicht gerade die Kinder bei einer Scheidung das große Streitthema? Entsteht nicht besonders für eine alleinerziehende Mutter oft Probleme bei Job- und Wohnungssuche?

Da es gerade so schön ist: Christa sagte, wenn man Kinder hat, ist das toll, weil man selbst auf einmal nicht mehr so wichtig ist. Was für ein Pro-Argument war das denn? Ich bin mir aber wichtig und ich will wichtig sein. Ich habe nur dieses eine Leben.

Bitte tut mir einen Gefallen: Ich kann eure Entscheidungen nicht nachvollziehen, aber ich akzeptiere sie, weil sie für euch wohl das Richtige sind. Aber bitte, dann respektiert auch meine Entscheidung.“

 

Vortrag Ende, erstmal Luft holen. Ich lasse mich erschöpft auf meinen Stuhl fallen. Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass sich dies alles seit bald 7 Jahren angestaut hat und ich bisher immer nett war.

 

Im Gastraum herrscht Todesstille. So still ist es in meiner Familie nie.

Ein, zwei, drei Sekunden passiert nichts. Ein Donnerwetter erwartend, bereite ich mich mental auf meine Verteidigung vor und krame in meiner Tasche.

 

Dann reden plötzlich alle durcheinander. Es tönt von einem Tischende zum anderen und wie so oft reden alle gleichzeitig.

 

„Gut gemacht, Schatz“, sagt mein Freund zu mir und ich weiß nicht, ob er es ernst oder sarkastisch meint.

 

„Gudrun, woher hat sie das nur?“

 

„Meint sie das ernst?“

 

„Ihre Mutter hatte früher auch mal so eine komische Phase.“

 

„Das liegt bestimmt an ihrem Freund. So eine Einstellung gab es in unserer Familie ja noch nie!“

 

„Skandalös. Sie hat ja keine Ahnung, was ihr entgehen würde.“

 

„Vielleicht kann er keine Kinder zeugen.“

 

„Der Jüngste ist er ja wirklich nicht mehr!“

 

„Meint ihr, sie hat finanzielle Probleme und kann sich kein Kind leisten?“

 

„Jugendlicher Starrsinn. Wartet nur, sie wird es schon noch erkennen, dass Fortpflanzung der Sinn des Lebens ist.“

 

Irgendwann sind sich alle einig. Man blickt mir geschlossen verständnisvoll entgegen, eine Hand landet tröstend auf meiner Schulter.

 

„Anna, nimm das nicht so ernst. Das ist nur eine Phase. Ihr beiden kommt schon noch auf den Trichter. Tobt euch ruhig noch etwas aus.“

 

Meine liebe, etwas tüttelige Oma ruft triumphierend: „Hätte ich mich damals nicht ausgetobt, wärt ihr alle heute nicht hier!“

 

Der ganze Tisch fängt herzhaft an zu lachen und einige prosten einander mit klingenden Gläsern zu.

 

Seufzend schüttele ich den Kopf. Dazu fällt selbst mir nichts mehr ein.

Ich muss über meine unbelehrbare, engstirnige, aber auch auf ihre ganz eigene Weise liebenswerte Familie schmunzeln. Eigentlich wollte ich das Thema heute ein für alle Mal mit einem dramaturgischen Abgang vom Tisch fegen, doch gerade wird der Hauptgang serviert.

 

Unser traditionell gemeinsames Weihnachtsfest steht vor der Türe, daher hebe ich mir mein Schlussplädoyer einfach für das nächste Mal auf. Unter dem Tisch werfe ich noch einen Blick auf ein vorsorglich mitgebrachtes Schreiben unseres Arztes, in dem er uns eine am 01.11.2018 erfolgreich durchgeführte Vasektomie bestätigt.