Von Dagmar Droste

Wie konnte das passieren? An sieben Verlage hatte ich Exposees meines neuen Kriminalromans „Die Stunde der Wahrheit“ gesandt. Nichts außer Absagen. Der Schulbuchverlag antwortete mit einer Ablehnung, obwohl ich mehrfach verdeutlicht hatte, einen Gegenentwurf zu den nichtssagenden Fernsehkrimis geschaffen zu haben. Das Lektorat eines Sachbuchverlages reagierte erbost. Das alles ist ungehörig!

 

Der Roman ist gelungen, und es ist nicht zu vertreten, ihn in der Schublade aufzubewahren. Also rührte ich persönlich die Werbetrommel und veröffentlichte im Selbstverlag. Kümmerte mich um Pressemeldungen, stellte Öffentlichkeit her. Ein beachtenswerter Coup gelang mir mit der Anmietung eines Saales in einer überregional bekannten Buchhandlung. Mit den Verantwortlichen des städtischen Literaturcafés setzte ich mich in Verbindung. Die Initiatoren waren begierig, meinen Roman kennenzulernen, doch ich schaffte die Geheimhaltung. Niemand kannte den Inhalt, nichts war durchgesickert, nur den Titel hatte ich bekannt gegeben. Es sollte eine aufsehenerregende Überraschung und mein Durchbruch werden.

 

Der Saal fasste an die hundert Menschen und pünktlich um 20.00 Uhr war er überfüllt. Auf dem Podest stand ein schlichter Tisch, der durch eine Leselampe ausgeleuchtet wurde. In den ersten beiden Reihen saßen die von mir persönlich eingeladenen Vertreter der Presse. Ihnen hatte ich dargelegt, dass ich nach der Lesung, gegen 22.00 Uhr zu einem Exklusivinterview zur Verfügung stehen würde.

 

Zu einem Mix aus gruseliger Halloween Musik schritt ich, in Schwarz gekleidet, von der Seite auf das Podest. Ein Raunen erfüllte den Raum und ein Lächeln mein Gesicht.

 

Der Vorsitzende der Literaturgemeinschaft begrüßte die Anwesenden: „Liebe Literaturinteressierte, es ist mir eine große Freude, Sie so zahlreich begrüßen zu dürfen. In einer Zeit, in der der virtuelle Raum auch in der Literatur dominanter zu werden scheint, sind wir ganz besonders stolz, mit einer Autorin zusammenarbeiten zu dürfen, die uns schon im Vorfeld unserer Planungen ideenreich und schöpferisch zur Seite stand. Ich wünsche uns allen im Namen unserer Literaturgesellschaft einen erlebnisreichen Abend.“ Er reichte mir mit einem ermutigendem Lächeln das Mikrofon.

 

Applaus!

 

„Oje …, was ist das?“, schoss es mir durch den Kopf. Krächzende Laute verließen meine Kehle. Benommen starrte ich auf den Tisch, ergriff das vor mir liegende Buch und blätterte fahrig darin herum. Zeit verrann. Völlig irritiert fragte ich mich: „Warum starren mich die Leute an? Was wollen Sie von mir?“ Ich rang nach Fassung, blieb stumm. Was wollte ich nur? Keine Erinnerung! Innere Leere! Black-out!

 

Kalter Schweiß suchte sich den Weg auf meine Stirn. Hände und Füße schienen in einer Kältekammer zu stecken. Mein Herz raste, mein Kopf dröhnte. Ich legte meine Brille ab, setzte sie wieder auf. Wie viel Zeit war vergangen? Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit bis ich die ersten Worte an den Vorsitzenden der Literaturgemeinschaft gerichtet mit heiserer Stimme herausbrachte: „Herzlichen Dank!“

 

„Meine lieben Damen und Herren“, setzte ich mit zittriger Stimme an. „Heute möchte ich mit Ihnen gemeinsam Freude erleben. Ich denke, das Buch, das ich Ihnen vorstellen werde, wird Sie begeistern, Sie werden die ersten sein, die Kenntnis davon erhalten.“ Nervös nestelte ich an meiner schwarzen, langärmeligen Bluse und wischte mir mit dem Unterarm die Schweißperlen von der Stirn. Stille im Raum! „Lesen verbindet, gibt Freiheit, regt die Fantasie an“, fuhr ich zusammenhangslos fort.

 

Diese furchteinflößende Stille. Diese gespannte Erwartung, die mir entgegenschlug, spürte ich körperlich. Ich fand keine Worte, fühlte mich wie gelähmt. Wie konnte es nur so schwer sein, die Leute zu begeistern? „Es ist doch ein gutes Buch, ja, es ist gut“, versuchte ich, mir gut zuzureden. „Ist es wirklich ein gutes Buch?“, Zweifel machten sich breit. Niemand hatte es gegengelesen, aber auch nur, weil sie sowieso etwas zu meckern gehabt hätten. Wenn das nun niemanden interessieren würde?

 

Die Stille wurde je durchbrochen:

 

„Das Buch ist so geheim, dass es in Geheimschrift geschrieben ist“, warf ein Zuhörer ein. Gelächter!

 

„Ein Buch ohne Worte“, rief jemand aus der hinteren Reihe.

 

Der Vorsitzende eilte mir zu Hilfe, brachte mir ein Glas Wasser, worauf grölend zu hören war: „Bring ihr‘ nen Schnaps, dann klappt das besser.“

 

„Kann sie nicht lesen?“, drang es an mein Ohr.

 

„Können Sie uns etwas zum Titel des Buches erzählen?“, ein Journalist versuchte, die Situation zu retten.

 

„Ja …, ich äh …, habe diesen Titel gewählt …“, stammelte ich und fragte mich gleichzeitig, warum eigentlich.

 

Unsicher rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, stellte die Lampe an die andere Ecke des Tisches, blickte in den Saal und spürte Hunderte Augenpaare erwartungsvoll auf mich gerichtet. Panik überkam mich. War es richtig, meine erste Lesung in diesem Rahmen zu halten? War es ein Fehler? Die Gedanken schossen kreuz und quer durch mein Hirn. Ich zitterte am ganzen Körper.

 

„Beinhaltet der Titel Autobiografisches?“, wurde die Presse munter.

 

„Klar, siehste doch, die Stunde der Wahrheit ist da“, kam eine unflätige Erwiderung aus dem Publikum.

 

„Wir müssen die Lesung leider hier abbrechen, die Autorin fühlt sich unpässlich“, versuchte der Vorsitzende, die Veranstaltung zu beenden.

 

Sensationslüsterne Menschen verharrten auf ihren Plätzen, erwarteten mit Spannung, was geschehen würde. Eine Frau, ich kannte sie nicht, ergriff meinen Arm, redete therapeutisch auf mich ein und geleitete mich in einen Nebenraum. Ein weiteres Glas Wasser half, wieder klare Gedanken zu fassen. Entschieden schritt ich erneut aufs Podium.

 

„Ich stelle Ihnen heute meine Kriminal-Fabel vor“, begann ich, „das Buch können Sie im Anschluss dieser Veranstaltung, käuflich bei mir erwerben.“

 

„Das heißt, es handelt sich um einen kurzen Text? Erzählen Sie uns etwas zur Kernaussage“, meldete sich ein Pressevertreter und ein anderer fotografierte.

 

„Das Buch umfasst fünfundzwanzig Seiten und beschäftigt sich mit der Frage, welchen Stellenwert haben Tiere in der Familie; und sind mit ihrem Sterben suizidale Auswirkungen auf die Angehörigen zu erwarten?“ Ich begann mit der Lesung des ersten Kapitels.

 

„Aufhören – aufhören!“, schallte es aus dem Saal.

 

Die Besucher verließen nach und nach den Saal. Eindringlich erhob ich meine Stimme, um sie aufzuhalten. Verblieben waren zwei Pressevertreter, denen ich mein Werk aushändigte.

 

„Soll ich Ihnen das Buch signieren?“, fragte ich.

 

„Nein, nicht nötig!“, antworteten sie unisono.

 

„Das ist ein inhaltlich ziemlich dürftiges Heftchen“, sprach mich einer der beiden an, „das ist ja keine Zeitungszeile wert. Wer soll das denn lesen? Ein literarisches Desaster. Das reicht, zum Butterbrot Einpacken“, grinste er. „Tschau, wenn, dann lesen Sie von uns“, sie verschwanden.

 

Ich blieb erschüttert zurück. „Die Welt ist ungerecht“, sinnierte ich.

 

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