Von Marco A. Rauch

Es ist ein düsterer Tag, als Marek sein Haus verlässt. Der Himmel verkündet die baldige Entladung eines Unwetters. Marek geht zum Gartentor, öffnet es und verlässt sein Grundstück. Mit einer Hand schließt er den Reißverschluss seiner dunklen Regenjacke. Auf dem Weg zum Spielplatz stellt er den Kragen auf und zieht die Baseballcap tiefer ins Gesicht. Rot-gelbe Blätter auf dem Gehweg tänzeln vereinzelt nach links oder rechts, vor, zurück. Wie verirrte Kinder, denkt er, die von Zuhause verstoßen wurden. Selten fährt ein Wagen vorbei, kaum Menschen auf den Straßen des Dorfes. Nach einigen Minuten betritt er den Spielplatz, sieht sich kurz um, setzt sich auf eine der massiven Bänke, die aus halben Baumstämmen zusammengebaut bereitstehen.

Eine ältere Frau steht hinter der Schaukel. Sie gibt einem kleinen Mädchen Schwung.

Aufmerksam beobachtet Marek die beiden. Die Kleine trägt Jeans, pink-weiße Gummistiefel und eine Jacke. Die Frau trägt ebenfalls Jeans, dunkle Schuhe und eine Regenjacke. Hier und da fährt ein Auto vorbei, dann und wann seufzt der Wind ein paar Blätter vor sich her. Sonst ist es ruhig. Marek sieht sich um, schaut kurz in den dunklen Himmel, beobachtet die beiden. Die ältere Frau betrachtet ihn argwöhnisch, sieht zu dem Kind, gibt ihm einen erneuten Schubs und hebt ihre Augen Richtung Marek. Einen Moment verankern sich die Blicke, prüfend, analysierend, kurz darauf lösen sie sich. Er beobachtet das Mädchen. Sie spricht nicht, hat ihre Augen im Wind etwas zusammengekniffen, bewegt ihren Körper rhythmisch mit dem Schaukeln vor und zurück. Rhythmisch vor und zurück. Immer und immer wieder. Wie hypnotisiert beobachtet Marek diesen wiederkehrenden und immer wiederkehrenden Ablauf. Vor und zurück. Rhythmisch vor und zurück. Bilder beginnen vor seinem inneren Auge zu entstehen, er sieht ein kunstfertig erbautes Bett im Landhausstil, weiß lackiert, mit runden Stäben im erhöhten Bereich des Kopfteils. Ein paar dünne Streifen bunten Stoffs liegen bereit. Vor und zurück, rhythmisch vor und zurück. Marek sieht einen nackten Körper auf allen Vieren, jung, sehr jung. Lange braune Haare fallen links und rechts vom Kopf, bunte Kindersocken. Vor und zurück, vor und zurück.

Irgendwann stoppt das Mädchen den Gleichklang abrupt mit seinen kleinen Füßen, springt von der Schaukel und rennt zur Rutsche. Flink klettert sie die hölzernen Stufen hinauf und rutscht die geschlängelte Metallbahn hinab. Mareks Blick folgt ihr, beobachtet sie. Er fühlt etwas Wuchtiges in sich, es will an die Oberfläche. Will Kontrolle erlangen. Krampfhaft schluckt er es runter, beobachtet das Mädchen. Reibt unruhig seine Hände. Aus der Ferne erklingt Donnergrollen.

Nach ein paarmal weiteren Rutschens sagt die ältere Frau etwas zu dem Mädchen, beide bewegen sich Richtung Ausgang. Marek sieht sich noch einmal um, sonst ist niemand hier. Er steht auf, geht ihnen langsam hinterher. Der Wind hat leicht zugenommen, Marek sieht kurz nach oben, zieht die Baseballcap noch etwas tiefer ins Gesicht. Mit ausreichend Abstand folgt er den beiden. Unterwegs sieht er sich immer wieder um, blickt in jede Gasse, beobachtet die andere Seite der dörflichen Straße. Noch regnet es nicht, doch er will seinen Schritt nicht beschleunigen. Es soll alles normal aussehen. Unauffällig. Wieder sieht er das Landhausbett vor sich, weiße Lackierung, schon leicht angejahrt. Robuste Stäbe am Kopfteil, mit Geschick gedrechselt. Massivholz. Rote Sprenkel auf dem Weiß, dahinter an der Wand. Ein Blitz erhellt das Dunkel in der Ferne.

Marek ballt die Fäuste, unterdrückt jeden Impuls. Sein Gesicht verzieht sich. Mit der rechten Hand umfasst er sein linkes Handgelenk, reibt vorsichtig über vernarbtes Gewebe. Erinnerungen schießen empor, er hört Schreie. Von Marie. Die Kleine schreit und weint, kann sich nicht bewegen. Und er sieht sie. Er sieht alles, mit weit offenen Augen.

Die ältere Frau und das Mädchen biegen nach rechts in eine Gasse ein, jetzt beschleunigt Marek. Er hört schnelle Schritte auf Kopfsteinpflaster, sie klopfen wie sein pochendes Herz. Kurz bevor er um die Ecke biegt, hört er das Mädchen und die Frau kreischen. Alarmiert rennt er in die Gasse, erkennt die Situation, wirft sich auf den Angreifer und ringt ihn zu Boden. Wie ein Berserker schlägt er wieder und immer wieder auf den Mann ein, bis der sich nicht mehr rührt. Atemlos kniet Marek über dem Leib, hebt seine zitternden, blutverschmierten Hände langsam vors Gesicht. An einigen Knöcheln aufgeplatzte Haut. Tränen laufen aus seinen weit aufgerissenen Augen, er sieht hinab, in das blutige Gesicht seiner grausamen Träume. Vollbart und Haut tiefrot in rot.

Sekunden vergehen wie Stunden, Marek kann seinen Blick nicht abwenden. Die Frau und das Mädchen sind längst geflohen. Verstört sieht er in das Gesicht, dieses Gesicht, das seiner Familie jede Unschuld stahl. Eine kleine Narbe über der rechten Braue, fast geradlinige Nasenflügel Richtung Stirn. Tiefe Lachfalten graben eine Furche von den Mundwinkeln hinauf. Zwischen den Augenbrauen wuchtige Gräben. Braune, schulterlange Haare, die zerzaust links und rechts im Schmutz und auf rot-gelben Blättern liegen. Wie ein Rocker sieht er aus, denkt Marek. Kopfform, Augen, Ohren, Nase, maskuline Züge. Wie ein Rocker in Zivil.

Behäbig steht Marek auf, torkelt kurz. Tränen bahnen sich ihren Weg die Wangen hinab, er sieht Marie neben dem Mann am Boden stehen. In weißem T-Shirt, mit nackten Beinchen. Rote Sprenkel, wo eigentlich Sommersprossen sein sollten. Sie deutet auf den bewegungslosen Körper, formt ihre Lippen. Und Marek hört die Worte, obwohl sie nie gesagt wurden. Warum hast du mir nicht geholfen?

Ein urgewaltiger Schrei hallt durch die Gasse, wieder und immer wieder. Rhythmisch immer wieder.

Im mittlerweile strömenden Regen findet die Polizei einen Mann vor, der auf seinen Knien kauert, die Hände zu Fäusten geballt über der Brust gekreuzt. Wieder und immer wieder bewegt sich sein Oberkörper vor und zurück. Rhythmisch vor und zurück. Mit jedem Schrei richtet sich sein Oberkörper auf, schaut sein schmerzverzerrtes Gesicht Richtung Himmel, zittern seine angespannten Arme vor der Brust, als wolle er Gott persönlich zerbrechen. Um anschließend kraftlos nach vorne zu sacken. Wieder und immer wieder.

Die Gerichtsverhandlung zieht an Marek vorbei wie hinter dichtem Nebel abgehalten. Alles wirkt sehr leise und weit entfernt. Für den Richter ist der Bösewicht schnell gefunden. Marek hätte völlig grundlos einen Mann erschlagen.

Doch Marek hört ihn nicht. Er starrt nur teilnahmslos ins Leere. Dem Pflichtverteidiger fehlen Argumente, er weiß nichts von der älteren Frau. Sie hat sich nicht bei der Polizei gemeldet. So bleibt dem Richter keine Wahl: Er übergibt den Täter an die forensische Psychiatrie.

Vor der Tat erlebte Marek jede Nacht denselben Traum, wenn er mal schlief.

Wie er die Treppe zu Töchterchen Marie hinaufgehen will, gute Nacht sagen. Wie es an der Türe klingelt, Marek öffnet und ein vollbärtiger Kerl eindringt, ihn schlägt, überwältigt, nach oben schleift und an die Heizung fesselt. Und wie der Fremde sich anschließend über Marie hermacht, auf dem weiß lackierten Landhausbett. Wo selbst die Puppen plötzlich schreien wollen.

Marek sieht sich selbst im Traum, wie er das entsetzliche Gefühl spürt, als würde er von Gott persönlich verstoßen. Wie er die entsetzten Augen schließt und öffnet, gefesselt und geknebelt schreit und wütet, seine Handgelenke blutig scheuert, bis ein Jagdmesser im Lichte blitzt. Und rote Sprenkel überall.

Wie seine Frau ihn findet, nach der Geschäftsreise. Wie die Pathologen mitteilen, keine Fremd-DNA. Und wie der Notarzt wenig später nichts mehr für die Mutter tun kann. Wie er innerlich abgeschnürt nur ein Bedürfnis spürt: Kein nächstes Kind. Wie er im Darkweb sucht, verbissen flucht und kaum bis gar nicht schläft. Wochenlang unauffällig im Ort patrouilliert.

Bis der Augenblick passiert.

Und Marek allen Mut konzentriert.

Seitdem weint er sich täglich in den Schlaf. Träumt nachts von Marie. Dann deckt er sie zu, haucht: „Leg dich zur Ruh`. Gott wird dich behüten.“

Und mit seinen Tränen wischt er im Schlaf die roten Sprenkel vom weiß lackierten Landhausbett. Damit das nächste Kind wohlig träumen darf.

 

(Inspiriert von Girls, Girls, Girls – Daniela Seitz – Mai 2023)

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